Historie

Schicht um Schicht

Zwischen den Berliner Bezirken Tempelhof, Kreuzberg und Neukölln liegt das Gelände des ehemaligen Flughafens Tempelhof. 2008 wurde der Airport geschlossen, seit gut zwei Jahren dient der »Tempelhofer Park« den Berlinerinnen und Berlinern als Naherholungsgebiet. Hier können Tausende jeden Tag nach Herzenslust skaten, radfahren, spazierengehen, kitesurfen, grillen, Fußball spielen und vieles mehr.

Als städtebauliches Projekt »Tempelhofer Freiheit« soll es aber künftig auch teilweise mit Wohnungen und Büros bebaut werden. Zudem sah die ursprüngliche Planung vor, hier 2017 die Internationale Gartenschau (IGA) zu veranstalten. Lange bevor der Berliner Senat Anfang dieses Monats von dem IGA-Projekt abrückte, begannen Archäologen von der Freien Universität (FU) in Zusammenarbeit mit dem Landesdenkmalamt mit Planungen für eine Rettungsgrabung. Denn was viele der Hauptstädter, die in ihrer Freizeit das Gelände bevölkern, wahrscheinlich nicht wissen: Das Feld war im Nationalsozialismus auch Schauplatz propagandistischer Masseninszenierungen, Standort eines Konzentrationslagers sowie mehrerer Zwangsarbeiterlager.

Archäologie Wegen der für die IGA geplanten Bauarbeiten befürchteten Denkmalschützer und Archäologen nun, dass dadurch möglicherweise noch vorhandene Artefakte insbesondere der Zwangsarbeitslager unwiderbringlich zerstört werden könnten. Deshalb gab die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt archäologische Ausgrabungen in Auftrag. Durchgeführt werden diese durch das Institut für Vorderasiatische Archäologie der FU in Zusammenarbeit mit der Senatsverwaltung, dem Landesdenkmalamt, der Grün Berlin GmbH und der Tempelhof Projekt GmbH.

Vor knapp drei Wochen haben die Arbeiten begonnen. Mit ersten Grabungsergebnissen sei Ende August zu rechnen, hieß es in einer Pressemitteilung der Senatsverwaltung. Doch bereits vergangenen Freitag gewährte das Archäologenteam um Reinhard Bernbeck und Susan Pollock vom FU-Institut für Vorderasiatische Archäologie bei einer öffentliche Führung erste Einblicke in ihre Arbeit.

Bernbeck erklärt zunächst den komplexen Wandel des Geländes vom späten 19. Jahrhundert bis heute. Das Tempelhofer Feld diente im 19. Jahrhundert als Ausflugsgelände, aber vor allem als Exerzierfeld inklusive Kaserne, Militärarrestanstalt und -friedhof. Bei der Eröffnung des Flughafens Tempelhof 1923, als einer der ersten Verkehrsflughäfen der Welt, wurde es zum Flugfeld, ein Teil des alten Militärfriedhofs auf die Nordseite des Columbiadamms verlegt.

Mit Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft wandelte sich die Funktion des Flugfeldes radikal. So diente das frühere Armeegefängnis, das Columbia-Haus, fortan der Gestapo als Lager für politische Häftlinge. Ein früher Häftlingsbericht stammt von Kurt Hiller, jüdischer Schriftsteller, Pazifist und Sozialist. Hiller wurde im Juli 1933 als »Schutzhäftling 231« von der Gestapo-Zentrale in der Prinz-Albrecht-Straße hierher gebracht und blieb, wie er 1935 schrieb, »fast dreieinhalb Monate in dieser Blut- und Kothölle«.

Luftbrücke »Am 1. Mai 1933 versammelten die Nazis auf dem Gelände mehr als eine Million Menschen für eine propagandistische Maifeier«, erzählt Bernbeck. Dem weißhaarigen Archäologen mit markantem dunklem Schnauzbart ist es unangenehm, dass die Stadtentwickler das Gelände unter dem Namen »Tempelhofer Freiheit« verwalten. Das erinnere viele Menschen vor allem an die Zeit der Berliner Luftbrücke 1948/49, als das abgeschnittene West-Berlin per Flugzeug versorgt wurde. Für Bernbeck ist »Tempelhofer Freiheit« aber ein »problematischer Begriff«, handele es sich angesichts der NS-Geschichte doch um einen »ambivalenten Ort«.

Schließlich gab es neben Propagandaveranstaltungen und dem Konzentrationslager im Columbia-Haus später auch noch mehrere Zwangsarbeiterlager in Baracken. Ab 1940 wurden hier vorwiegend Menschen aus Osteuropa, aber auch aus Frankreich, zur Arbeit in der Rüstungsproduktion gezwungen. So stellte etwa die Bremer Firma Weser-Flug GmbH, die heute nach diversen Fusionen und Eigentumsübertragungen zur European Aeronautic Defence and Space Company gehört, hier bis Oktober 1944 fast 2.000 ihrer berüchtigten »Stuka«-Bomber her. Auch die Lufthansa beutete an diesem Ort Zwangsarbeiter aus.

Bernbeck und sein Team graben nun an einer Stelle, an der Fundamente einer Lagerbaracke vermutet werden. Wegen des Regens waren die Arbeiten bislang nur langsam vorangekommen. Dennoch wurden einige Funde gemacht. So kamen verschmolzene Objekte zutage, die Bernbeck vermuten lassen, dass diese Baracke durch eine Brandbombe zerstört wurde.

Zeitzeugen Denn auch wenn Historiker schon viel von der Geschichte der Zwangsarbeit in diesem Teil Berlins erforscht haben, gibt es eine Menge offener Fragen. Bernbeck hält deshalb die archäologische Untersuchung historischer Orte für eine unerlässliche Ergänzung der klassischen Methoden von Historikern, wie etwa der Auswertung von Akten und der Befragung von Zeitzeugen.

Auch die geschichts- und archäologie-interessierten Berliner können durch die Führungen ihr Wissen über diesen heute so beliebten Ort erweitern. »Dass so viele kommen würden, hätten wir nicht erwartet«, freut sich Christine Wolf vom Landesdenkmalamt über die vielen Teilnehmer, »dabei haben wir bislang kaum Werbung gemacht.« Mindestens neun Führungen sind bis zum Ende des Grabungssommers noch geplant.

Wissenswertes zu Geschichte und Zukunftsplanungen unter www.tempelhoferfreiheit.de, Führungstermine gibt es unter www.stadtentwicklung.berlin.de

Literatur zur Geschichte des Geländes während der NS-Zeit:
Kurt Schilde/Johannes Tuchel: »Columbia-Haus. Berliner Konzentrationslager 1933–1936«. Edition Hentrich, Berlin 1990, 228 S.

F.-Herbert Wenz: »Flughafen Tempelhof. Chronik des Berliner Werkes der ›Weser‹ Flugzeugbau GmbH Bremen«. Stedinger, Lemwerder 2000, 160 S.

München

»In unserer Verantwortung«

Als Rachel Salamander den Verfall der Synagoge Reichenbachstraße sah, musste sie etwas unternehmen. Sie gründete einen Verein, das Haus wurde saniert, am 15. September ist nun die Eröffnung. Ein Gespräch über einen Lebenstraum, Farbenspiele und Denkmalschutz

von Katrin Richter  02.09.2025

Universität

Starke junge Stimme

Seit dem 7. Oktober 2023 versucht der Verband Jüdischer Studenten in Bayern, mit seinen Aktivitäten vor allem auf dem Campus einen Weg zurück zur Normalität zu finden

von Luis Gruhler  02.09.2025

Hilfe

»Licht in den Alltag bringen«

Naomi Birnbach über den Berliner Mitzwa Express, der mit Kindern arbeitet und den vom Terror schwer getroffenen Kibbuz Kfar Aza unterstützt

von Christine Schmitt  02.09.2025

Unterstützung

38.000 jüdische Kontingentflüchtlinge erhielten Rentenausgleich

Nach Angaben der Stiftung Härtefallfonds des Bundes wurden insgesamt 169.000 Anträge geprüft

 01.09.2025

Vorschau

Volk des Buches

Zum Europäischen Tag der jüdischen Kultur

von Nora Niemann  01.09.2025

Meinung

Schlechte Zeiten für Frankfurts Juden

Durch die Radikalisierung der israelfeindlichen Szene ist die jüdische Gemeinschaft der Mainmetropole zunehmend verunsichert. In der Stadtgesellschaft interessiert das jedoch nur wenige

von Eugen El  01.09.2025

Vor 80 Jahren

Neuanfang nach der Schoa: Erster Gottesdienst in Frankfurts Westendsynagoge

1945 feierten Überlebende und US-Soldaten den ersten Gottesdienst in der Westendsynagoge nach der Schoa

von Leticia Witte  01.09.2025

Forschung

Storys per QR-Code

Studierende der TU recherchieren zu Geschichte und Gegenwart jüdischen Lebens im Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf

von Helmut Kuhn  31.08.2025

Bildung

Mathe, Kunst, Hebräisch

Diese Woche ist die Jüdische Grundschule in Dortmund feierlich eröffnet worden. Warum entscheiden sich Eltern, ihr Kind auf eine konfessionell geprägte Schule zu schicken – und warum nicht?

von Christine Schmitt, Katrin Richter  31.08.2025