Das Wetter lädt nicht gerade dazu ein, einen Friedhof zu besuchen. Trotzdem katalogisieren, vermessen und erforschen israelische und deutsche Schüler in Bad Neustadt akribisch die Daten, die sich ihnen anhand der Grabsteine bieten.
Den Anstoß dazu gaben Raanan Kislev und Stefan Simon, die beide in der Dankmalpflege tätig sind. Der eine arbeitet für die Israel Antiquities Authority, der andere für das Rathgen-Institut der Staatlichen Museen zu Berlin. Der Israeli und der Deutsche hatten sich bei der UNESCO kennengelernt und überlegt, sich gemeinsam um das jüdische Erbe zu kümmern. Bei einer Tour durch Europa besuchten sie auch Franken.
Schüleraustausch Schon seit Jahren pflegt des Rhön-Gymnasium einen Austausch mit Mikve Israel in der Nähe von Tel Aviv. Als Kislev und Simon nun den jüdischen Friedhof in Bad Neustadt in Augenschein nahmen, erfuhren sie auch von diesem Kontakt. Zusammen mit dem für den Austausch verantwortlichen Lehrer Günter Henneberger und Stadtarchivar Thomas Künzl wurde die Idee geboren, dass die Jugendlichen Bad Neustadts den jüdischen Friedhof gemeinsam dokumentieren.
Kislev organisierte eine wissenschaftliche Begleitung durch drei junge Israelis, die sich für das sogenannte »Journey into Jewish Heritage«-Programm engagieren, das zur Aufgabe hat, überall in der Welt das jüdisches Erbe zu erhalten und aufzuzeichnen: die Historikerin Idit Ben Or aus Jerusalem, den Foto-Journalisten Tomer Appelbaum aus Tel Aviv sowie den angehenden Fotografen Eyal Tagar aus Jerusalem.
Die drei erforschten mit 22 Schülern der Mikve Israel School und den Schülern des Rhön-Gymnasiums den Friedhof. Die Schüler tauchten dabei sowohl in die Phase des relativ friedlichen Miteinanders von Juden und Nichtjuden als auch in die Schreckenszeit des Nationalsozialismus ein.
Dokumentation Sie fotografierten die Gräber und hielten die Inschriften mit Namen, Daten, Symbolen und sonstigen Informationen fest. Auch die Maße, Form und Beschaffenheit des Steins sowie den Zustand des Grabes notierten sie. Ben Or, Appelbaum und Tagar sammelten darüber hinaus nach weitere Details über die hier begrabenen Personen und ihre Geschichte.
Die Arbeiten sind nach zehn Tagen jedoch nicht abgeschlossen. Die Neustädter Gymnasiasten wollen nun alle bisherigen Angaben aufbereiten, sodass jeder Interessierte sich im Internet über den Friedhof und die Verstorbenen informieren kann. Die Datenbank soll durch weitere Nachforschungen im Stadtarchiv und Gespräche der Schüler mit Zeitzeugen aktualisiert werden.
Studiendirektor Günter Henneberger lobte den Einsatz der Schüler, ihr Interesse an dem Projekt sei sehr groß. »Sie wollten ihre gemeinsamen Wurzeln ergründen.« Es sei wichtig, die Geschichte aufzuarbeiten, so Henneberger weiter. Schulleiterin Edith Degenhardt pflichtete ihm bei. »Es ist schön zu sehen, dass trotz der düsteren Vergangenheit junge Leute beider Länder zusammenarbeiten.«
Effekt Die Zeit in Bad Neustadt werde sie lange in Erinnerung behalten, meinte die 29-jährige Ben Or. Der jüdische Friedhof von Bad Neustadt biete, so Tagar, eine gute Gelegenheit, »um Licht auf eine alte jüdische Gemeinde zu werfen«. Ihn berührten die Schicksale, von denen er durch die Arbeit erfahren habe. Appelbaum sah auch den Lerneffekt bei den Jugendlichen. »Die Arbeit auf dem Friedhof ist ein sehr intensiver Unterricht«, erklärt der 35-Jährige.
Auffallend sei, so Tagar, dass ein Teil des Friedhofs noch leer sei. »Hier haben Menschen gelebt, die auf Wachstum ihrer Gemeinde hofften.« Die Zusammenarbeit von Israelis und Deutschen sei mehr als nur ein Zeichen der Versöhnung.