Kein Stäubchen Gesäuertes darf vor Pessach in einem religiösen jüdischen Haushalt übrig bleiben. Doch wohin mit den Keksen, Nudeln, Mehl oder Reis, die zum festen Lebensmittelvorrat gehören und die man immer in Hülle und Fülle zu Hause hat? Immer mehr Jugendzentren und Gemeinden sammeln sie und geben sie an städtischen »Tafeln« ab, die sie an Bedürftige weiterreichen.
Woher die Leute die Grundnahrungsmittel erhalten, sei doch egal, sagt Sandy Wolf. Hauptsache, sie bekommen sie, meint die 16-Jährige, die sich bei der Zionistischen Jugend München engagiert. Wenn sie gemeinsam mit anderen Jugendlichen Chametz für Bedürftige der »Münchner Tafel« sammelt, gehe es doch nicht darum, die Leute dort darüber aufzuklären, was es mit all den gespendeten Lebensmitteln auf sich hat und dass das »von einer jüdischen Organisation« kommt, sagt Sandy. »Als wir einmal in einem Flüchtlingsheim Wände gestrichen haben, haben wir ja auch nicht gesagt, dass wir Juden sind«, fügt sie noch erklärend hinzu. Wichtig bei der Chametz-Spende sei es gewesen, dass sich die armen Leute »unheimlich freuen konnten«.
Bereits vor zwei Jahren hatten die Mitzwe Makers vor Pessach bei der Zionistischen Jugend in Deutschland (ZJD) angefragt, ob sie bei der Aktion »Chametz spenden« mitmachen würden – »und wir waren dabei«. Jeder sollte von zu Hause etwas von dem, was eben nicht koscher le-Pessach ist, mitbringen, und da in Sandys Familie »die Sachen nicht verbrannt«, sondern tief unten im Keller in einem Karton verstaut werden – »sodass sie halt weit weg sind von uns« –, ist Sandy in den Keller gestiegen und hat ihre Tasche gefüllt »mit einem Toastpaket, einer Tüte Reis und einer Tüte Nudeln«. Die Mutter fand das nicht nur in Ordnung, sie fand das sogar sehr gut. Zusammengekommen sei bei dieser Aktion »ein großer Sack voll«, den die ZJDler für die Mitzwe Makers bereitstellten, die ihn dann mitnahmen und zur »Münchner Tafel« brachten.
In diesem Jahr soll eine ähnliche Aktion starten. Chametzsammeln gehört für Sandy zu Pessach wie das Putzen und das gemeinsame Feiern. Sandy freut sich sehr auf das Fest, »was es da am Abend gibt, sind meine absoluten Lieblingssachen«, und auch gegen Mazzot hat sie nichts einzuwenden. »Die schmecken zwar nach Karton, aber dagegen lässt sich ja etwas machen.« Sie streicht Frischkäse darauf, oder vielleicht gibt es sogar eine Mazze-Lasagne.
Satt sollen jedenfalls auch andere werden. »Beim Chametz-Sammeln wird wieder einiges zusammenkommen«, ist Sandy überzeugt, »weil wir allen wirklich klarmachen, dass jeder etwas geben kann.« Ob sie Sammelsieger werden? »Auch das finde ich nicht wirklich wichtig«, sagt Sandy.
Motivation In Hamburg steht der große Frühjahrsputz noch an, doch auch in diesem Jahr treffen sich wieder die Jugendlichen im Chasak-Jugendzentrum, um vor Pessach Chametz und andere Lebensmittel zusammenzutragen und zu spenden. Jugendbetreuer Eyal Levinsky hatte keine große Mühe, seine Schützlinge zu motivieren, denn die haben ja gerade mit dem Gewinn der Jewrovision im Februar ordentlich Selbstbewusstsein getankt. Und natürlich wollen die Hamburger auch beim Spendensammeln ihr Ergebnis vom vergangenen Jahr übertreffen.
Der Wettbewerb ist aber nicht so wichtig und das ausgelobte Geschenk für die besten Sammler nebensächlich, denn hier geht es um den Inhalt, meint der Betreuer. »Es wird dann ein festes Datum geben, an dem wir sammeln«, erzählt Levinsky. Dann bringen Gemeindemitglieder ihre Spenden zu Chasak. Aber vorher wurde natürlich ordentlich die Werbetrommel gerührt, bei den Jugendlichen zu Hause, aber auch in der Gemeinde, mit Flyern und Spendenaufrufen. In koscheren Haushalten muss ja zu Pessach ohnehin ausgeräumt werden, viele Hamburger bringen dann Lebensmittel als Spenden vorbei, meistens länger haltbare Speisen. »Oft sind es Nudeln, Brot, manchmal Öl, ich habe schon alles erlebt«, sagt Levinsky. Besonders skurril: »Einmal hat jemand sogar Ravioli mit Schweinefleisch gespendet!« Da es aber Dosen-Ravioli waren, wurde die Spende natürlich nicht weggeworfen, sondern trotzdem weitergegeben.
Schokoseder 50 bis 60 Kinder beteiligen sich in Hamburg in diesem Jahr an der Aktion. Vielleicht erinnern sich die Teilnehmer auch noch gut an das vergangene Jahr, als sie ihre Spenden bei der Hamburger »Tafel« abgaben und dort mit großer Dankbarkeit empfangen wurden. Am 9. April gibt es dann noch eine besondere Überraschung, denn da findet ein Pessach-Schokoseder an der Talmud-Tora-Schule statt, das dürfte für viele Kinder noch mehr Ansporn sein als das Geschenk für die meisten Spenden.
Die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland wirbt auf ihrer Facebook-Seite mit einem kleinen Videoclip für die Chametz-Sammelaktion. Und auch der Zentralrat sammelt mit. Die Mitarbeiter haben beim Frühjahrsputz viele haltbare Grundnahrungsmittel, Kekse und Brote gefunden, die sie mit ins Büro brachten. »Es ist wirklich gut, einmal seine Vorräte zu durchforsten«, sagt Mitzvah-Day-Organisatorin
Hannah Dannel, »dabei findet sich dann so einiges, dessen Haltbarkeitsdatum längst überschritten ist. Das kommt natürlich dann gleich in den Müll«, sagt sie. Chametz und noch haltbare Lebensmittel verstaut sie ebenfalls in der durchsichtigen Kiste, die im Eingang des Zentralratsgebäudes in der Tucholskystraße steht. Rechtzeitig vor Pessach bringt Dannel die Kiste zur Berliner »Tafel«. »Die wissen Bescheid und freuen sich auch schon darauf«, sagt Dannel.
Tradition In Badens zweitgrößter Gemeinde, in Mannheim, ist das Sammeln von Chametz bereits guter Brauch. Thomas Abramovich, Leiter des Jugendzentrums Or Chadasch, sieht darin eine gute Möglichkeit, Kindern und Jugendlichen jüdische Tradition, deren religiöse Bedeutung und gleichzeitig ein Bewusstsein für soziale Verantwortung zu vermitteln. »Im vergangenen Jahr haben wir eine große gelbe Kiste voll mit Lebensmitteln bei der Bahnhofsmission abgeben können. Leider hatten wir dort keine Möglichkeit, mit den Menschen in Kontakt zu kommen, für die die Spende gedacht ist«, berichtet der Biochemiestudent.
In diesem Jahr werde man das Chametz der Mannheimer »Tafel« übergeben. Abramovich meint, dass es dabei sicher auch Gelegenheit geben wird, »dass unsere Kinder und Jugendlichen direkt mitbekommen, dass es in unserer Stadt auch bedürftige Menschen gibt, die unsere Hilfe brauchen«. Es reiche nicht, sich nur auf das soziale Netz in einer Stadt zu verlassen. Jeder müsse mithelfen, damit es auch anderen gut geht.
Aufklärung Chametz-Sammeln hat in Mannheim noch einen weiteren positiven Effekt. »Wenn wir bei Organisationen anrufen und ihnen unsere Spenden anbieten, erleben wir zweierlei: Zum einen wird die Hilfe gern angenommen, und zum anderen ist man erstaunt, dass es in Mannheim ein jüdisches Jugendzentrum gibt«, erzählt Thomas Abramovich. »Man weiß zwar, dass eine Synagoge in der Altstadt zu finden ist, über jüdisches Leben in der Stadt hat man jedoch meist wenig Kenntnisse.« Man mache mit der Aktion also auch transparent, »dass wir ein aktiver Teil der Mannheimer Gesellschaft sind«.
Die Kinder des Düsseldorfer Jugendzentrums Kadima hatten im vergangenen Jahr die Chametz-Sammelaktion gewonnen. »Es waren riesige Mengen«, sagt Raissa Manachirova, die Leiterin des Juze. Die Eltern hatten ihren Kindern Packungen von Nudeln und Kuchen mitgegeben, und auch aus der Küche des Jugendzentrums kam viel Chametz zusammen. Im vergangenen Jahr wurde es der Kindertafel Düsseldorf gespendet. Die damalige Leiterin brachte Cornflakes, Müsli und Nudeln dort vorbei und postete bei Facebook Fotos.
ERfolg In diesem Jahr erhält die Düsseldorfer Tafel die Spenden. »Sie freuen sich schon sehr, denn sie können alles gebrauchen«, sagt Raissa, die bereits mit deren Mitarbeitern gesprochen hat. Die Aktion, das Chametz nicht zu verbrennen, sondern zu spenden, komme bei den Kindern und Jugendlichen sehr gut an.
Auch in Köln wurde in diesen Tagen eifrig gesammelt, sagt der Leiter des Jugendzentrums Jachad, Anton Tsirin. Im vergangenen Jahr hätten sie sich ebenfalls an der Aktion beteiligt, doch dieses Mal hätten sie den Ehrgeiz, sehr viel Chametz zu spenden.
In Gelsenkirchen ruft die Jüdische Gemeinde selbst zum Chametz-Sammeln auf, sagt deren Vorsitzende Judith Neuwald-Tasbach. Die Nudeln und der Kuchen gehen an Menschen, die nicht so wohlhabend sind, freut sie sich. »Das ist eine tolle Geschichte.«
Zusammengestellt von Katrin Diehl, Moritz Piehler, Harald Raab und Christine Schmitt