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Kein Ausstellungsstück: Tovia Ben-Chorin, ein Rabbiner zum Anfassen. Foto: Stephan Pramme

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Tovia Ben-Chorin ist Rabbiner, Prediger, Gelehrter – und ein streitbarer Geist

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  28.09.2010 09:25 Uhr

Es passiert ihm mitunter noch heute, dass er mit seinem Vater, dem deutsch-jüdischen Religionsphilosophen Schalom Ben-Chorin, verwechselt wird. Doch das stört Tovia Ben- Chorin, den Sohn, nicht im Geringsten. »Dass ich ein ganz anderer Jahrgang bin, scheint den Leuten erst einmal nicht aufzufallen. Doch spätestens mein nicht ganz so akzentfreies Deutsch macht sie dann doch stutzig«, meint Tovia Ben-Chorin augenzwinkernd. So ist der 74-Jährige auch schon bei so mancher interreligiöser Gesprächsrunde als Schalom Ben-Chorin angekündigt worden. Kein Problem für den Rabbiner, denn die Prominenz seines Va-
ters erfüllt ihn mit Stolz. »Ich freue mich immer, wenn die Leute sich an meinen Vater erinnern«, fügt er hinzu.

Schließlich steht der Name Schalom Ben-Chorin wie kein anderer in der deutsch-jüdischen Nachkriegsgeschichte für Dialog, Ethik und Begegnung – Werte, die Tovia Ben-Chorin in seinem Elternhaus vorgelebt wurden und die er derzeit als Gelehrter am Abraham-Geiger-Kolleg Potsdam sowie als liberaler Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Berlin jüngeren Generationen vermittelt.

religion Im Schatten seines Vaters hat er ohnehin nie gestanden. Denn schon früh zeichnete sich der Wunsch ab, die Rabbi-nerlaufbahn einzuschlagen, zu der ihn sein Vater ausdrücklich ermutigte. »Er hat immer zu mir gesagt, Tovia, egal, was du tust oder unterlässt – du musst es erklären können.« Ein Rat, den Ben-Chorin bis heute beherzigt. Egal ob in seinen Seminaren vor angehenden Reformrabbinern am Potsdamer Geiger-Kolleg, Predigten in der Synagoge Pestalozzistraße oder Workshops an der Jüdischen Volkshochschule – ihm liegt vor allem eines am Herzen: Religion soll lebbar sein. Denn hinter dem Rat des Vaters steht ein halachisches Denkmodell, das Tovia Ben-Chorin eher als »Wegweiser« begreift.

»Es ist doch klar, dass ein Jude, der beispielsweise in einem Wüstenkibbuz in der Arava-Senke lebt, einen anderen Lebensrhythmus hat als ein Jude in Berlin. Weisung für unterschiedliche Situationen – das ist für mich Halacha«, erklärt der Rabbiner lebhaft. Entscheidend für die Praxis sei dabei die Frage der Autorität – nimmt man die Texte wörtlich oder passt man ihre Auslegung der Gegenwart an? »Ich glaube, wir brauchen heute beides«, sagt Ben-Chorin, der an der Hebrew University Jerusalem Bibel und Jüdische Geschichte studiert hat, bevor er 1964 in den USA zum Rabbiner ordiniert wurde. »Wir sind beide Konsumenten der Mizwot, wenngleich mit verschiedenen Imperativen – die Orthodoxie mit einem verlässlichen Gerüst aus verbaler Offenbarung, die Liberalen mit der Vernunft, die sie ständig zur Wahl zwingt.«

leben Die Wahl, nach Berlin zu gehen, fiel ihm leicht. Auch wenn er seine Kinder und Enkel in Israel mitunter sehr vermisst. Dass er und seine Frau die Familie nur in den Ferien um sich haben, ist ein der einzige Wermutstropfen; ansonsten fühlen sich beide sehr wohl in Berlin. Sie sind das Reisen gewohnt, denn immerhin amtierte der Rabbiner vor seiner Berufung nach Berlin zuvor in Gemeinden in den USA, Südafrika, England und der Schweiz. Von seiner Charlottenburger Altbauwohnung aus, in der neben vollgestopften Bücherregalen auch jede Menge Fotos seiner Enkel stehen, hat er es nicht weit zur seiner Synagoge Pestalozzistraße.

»Es ist schon merkwürdig, wie sich gewissermaßen der Kreis schließt«, überlegt Ben-Chorin, während er nachdenklich das Schwarz-Weißporträt seines Vaters auf dem Fensterbrett neben seinem Schreibtisch betrachtet. Als deutscher Jude war Schalom Ben-Chorin, der damals noch Fritz Rosenthal hieß, 1935 von München nach Israel emigriert, wo ein Jahr später sein Sohn Tovia zur Welt kam. Obgleich er konsequent zweisprachig aufwuchs, in seiner Jugend mit Martin Buber und Else Lasker-Schüler plauderte und früh ein feines Gespür für die Welt der Jeckes entwickelte, ist Tovia Ben-Chorin weitaus weniger in der deutschen Kultur verhaftet, als es seine Eltern noch waren. Ein Vorteil, findet der liberale Gemeinderabbiner. Denn mit seinem Elan, seiner Aufgeschlossenheit und weltweit erprobten Lebenserfahrung bringt er frischen Wind nach Berlin.

Gemeinde Galt Ben-Chorin dem Berliner Gemeindevorstand noch vor 20 Jahren als »zu liberal«, ist seine Unterstützung heute sehr willkommen. »Die Gemeinde ist seit Jahren im Umbruch – dank der vielen Zuwanderer aus der ehemaligen Sowjetunion. Auch ihr Selbstverständnis hat sich damit verändert«, stellt der Rabbiner aus Israel erleichtert fest. »Weniger Schoabestimmtheit, mehr Rückbesinnung auf positive Aspekte deutsch-jüdischer Geschichte, vor allem aber viel Gegenwart«, fasst Ben-Chorin seine Eindrücke nach knapp zwei Jahren Amtszeit zusammen. Dass er der Gemeinde in diesem Prozess unterstützend zur Seite stehen darf, freut ihn deshalb besonders.

»Die Berliner Gemeinde braucht viel Liebe«, verrät er. »Ich möchte stärken, was es gibt und die Gemeinde besser kennenlernen.« Deshalb scheut er sich nicht, auch zu Gottesdiensten seiner orthodoxen Kollegen vorbeizuschauen. Dabei kommt ihm nicht nur seine Gelehrsamkeit und Integrität zugute, sondern auch seine warmherzige Art, ungezwungen auf andere zuzugehen.

»Ja, warum denn nicht?«, fragt Ben Chorin lächelnd. »Einer muss ja schließlich den Anfang machen.« Schon in seiner Kindheit gehörten regelmäßige Besuche im »Stibl« des Rabbi von Gur im ultraorthodoxen Jerusalemer Stadtteil Mea Schearim ebenso zu den Standards seiner liberalen Erziehung wie später die Teilnahme an Gottesdiensten in Har El, der ersten Reformgemeinde Israels, die er zusammen mit seinem Vater gegründet hat. »Synagogenhopping« empfiehlt er daher auch seinen jungen Rabbinerstudenten vom Geiger-Kolleg, um sie optimal auf den Dienst in einer Einheitsgemeinde vorzubereiten. Zugleich will er damit für »mehr Wärme und Respekt« gegenüber dem Rabbineramt werben.

Politik Berührungsängste hat er jedenfalls nicht. Auch dann nicht, wenn es gilt, sich unbequemen Fragen zu stellen. Dass er der Initiative JCall seine Stimme gegeben hat, war für ihn deshalb selbstverständlich, seit Sonntag ist er sogar Vorsitzender der deutschen Sektion. Der »Europäisch-jüdische Appell an die Vernunft«, den bereits mehr als 7.000 Juden in ganz Europa unterzeichnet haben, definiert sich als jüdisch, europäisch und kritisch gegenüber Israels Regierungspolitik.

Von weiten Kreisen etablierter jüdischer Organisationen kritisiert, fordert JCall das Bekenntnis zu Israel, aber auch eine Zweistaatenlösung und den Stopp des israelischen Siedlungsbaus. Die neue jüdische Lobbygruppe, deren Programm Ben-Chorin und seine prominenten Mitstreiter im Mai vor dem Europäischen Parlament in Brüssel vorgestellt haben, hält der Rabbiner vor allem deshalb für wichtig, »weil wir wieder verstärkt eine offene Streitkultur brauchen, geleitet vom Ethisch-Göttlichen«.

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