Porträt der Woche

»Politik liegt in der Familie«

»Chanukka ist mein Lieblingsfest, weil es an unseren Zusammenhalt erinnert«: Die Gymnasiastin Isabell Aviva Vaisman (16) lebt in Augsburg. Foto: Uwe Steinert

Porträt der Woche

»Politik liegt in der Familie«

Isabell Aviva Vaisman war Praktikantin im Bundestag und macht seit Jahren Aikido

von Katharina Schmidt-Hirschfelder  19.12.2016 18:41 Uhr

Mein voller Name ist Isabell Aviva Waisman. Aviva ist hebräisch und bedeutet »Frühling«. Meine Mutter hat ihn bewusst ausgesucht, weil sie Tel Aviv so mag. Frühling verbinde ich mit Veränderung, Neubeginn, Aufblühen. Mir gefällt die Bedeutung. Ich finde, dass der Name gut zu mir passt.

Geboren wurde ich in Fürstenfeldbruck westlich von München. Aufgewachsen bin ich in Türkenfeld, einem kleinen Dorf in der Nähe. Meine Eltern stammen ursprünglich aus der Ukraine – mein Vater aus Donezk in der Ostukraine, meine Mutter aus Krementschuk. Sie sind jeweils 1994 und 1995 als sogenannte Kontingentflüchtlinge nach Deutschland gekommen. In Augsburg leben wir seit 2007. Hier besuche ich die elfte Klasse eines Gymnasiums. Ich bin 16 Jahre alt und habe eine jüngere Schwester.

verwandte Meine Omas und Opas sind auch alle hier. Immer, wenn wir zusammensitzen – und das ist sehr oft –, kommt die Familiengeschichte zur Sprache. Die Migration spielt für alle noch immer eine große Rolle, aber auch die alten Geschichten von damals, der Alltag früher, die gesellschaftlichen Unterschiede, die finanzielle und wirtschaftliche Situation.

Auch der Nahostkonflikt ist ein Thema. In Israel haben wir viel Verwandtschaft. Viel reden wir auch über die Krise in der Ukraine. Wenn wir alle zusammensitzen, wird oft sehr heftig diskutiert.

Bestimmt rührt mein Interesse für Politik daher – meine Eltern sagen immer: »Wenn du das nicht verstehst, wie soll dann die Zukunft aussehen?« Sie finden, man muss die Vergangenheit verstehen, um Zukunft zu gestalten. Das habe ich verinnerlicht. Ich war zwar noch nie in der Ukraine, aber es war einmal die Heimat meiner Eltern. Also will ich es verstehen.

feiertage Unsere Familie ist sehr liberal. Das heißt, dass wir auch über die christlichen und muslimischen Feiertage Bescheid wissen und hin und wieder gerne die Gelegenheit eines nichtjüdischen Feiertags nutzen, um mit der Familie zusammenzukommen.

Weil ich mich aber mit der jüdischen Religion sehr verbunden fühle und stolz bin, Jüdin zu sein, ernähre ich mich seit über einem Jahr koscher. Ich verstecke mein Judentum nicht, im Gegenteil: Meine Schwester und ich tragen Kettchen mit einem Davidstern.

Auch wenn wir nicht religiös sind, bewahren wir bei uns zu Hause einige religiöse Gegenstände auf: Im Regal steht ein Toraband, an der Eingangstür haben meine Eltern eine Mesusa befestigt, mit einem Originalpergament aus Jerusalem.

Ich mag auch die verschiedenen Kerzenleuchter, am meisten aber unsere Festchanukkia. Es ist jedes Jahr eine so schöne Atmosphäre, wenn wir sie aufstellen. Chanukka ist mein Lieblingsfest, wahrscheinlich, weil es eine so wichtige Rolle im Zusammenhalt des jüdischen Volkes spielt. Die Botschaft, die überliefert wird, ist: »Wenn man gemeinsam an ein Wunder glaubt, wird dieses Wunder auch wahr.« Vor allem heutzutage finde ich solche Gedanken sehr schön.

abgeordnete Wie wichtig es ist, nicht die Hände in den Schoß zu legen und auf Wunder zu warten, sondern selbst aktiv etwas zu tun, ist mir besonders bewusst geworden, als ich im Sommer ein Praktikum im Bundestag gemacht habe. Das war das absolut Tollste und Aufregendste, was ich in diesem Jahr erlebt habe. Dass ich überhaupt die Chance dazu hatte, verdanke ich einem Zufall.

Ich mache seit neun Jahren Aikido. In der Gruppe sitzen wir nach dem Training oft zusammen und reden über alles Mögliche. In den Sommerferien, kurz nach dem Ende der zehnten Klasse, fragte mich jemand, was ich denn später einmal beruflich machen wolle. Da habe ich gesagt, dass ich mich für Politik interessiere, weil ich eben auch den Bezug habe zu Israel und zur Ukraine. Matthias, ein Junge aus der Gruppe, schlug mir daraufhin spontan vor, ein Praktikum bei seiner Mutter zu machen, der CSU-Bundestagsabgeordneten Iris Eberl. Ich habe nicht lange überlegt und sofort zugesagt.

Danach ging alles sehr schnell: Frau Eberl gab grünes Licht, und einige Wochen später, Ende August, kam ich mit meiner Familie in Berlin an, pünktlich zum Tag der Offenen Tür der Bundesregierung. Frau Eberl führte uns im Reichstagsgebäude herum und begleitete uns zur Dachterrasse der Kuppel.

Am Montag bekam ich dann meinen Praktikumsausweis, danach ging es sofort richtig los mit einer Bürositzung. Da wurden Themen besprochen wie »Umgang mit Medien« oder Frau Eberls Reise nach Serbien. An den anderen Tagen war ich überall live dabei, auch in der dritten Reihe auf der Besuchertribüne, als Bundesfinanzminister Schäuble seinen Haushaltsplan vorstellte. Es war überwältigend. Das Praktikum war alles andere als kopieren und Kaffee kochen!

Brezen Ich durfte Frau Eberl jeweils in die serbische, kirgisische und philippinische Botschaft begleiten und außerdem zu Petitionsausschüssen, Plenumssitzungen und einer Debatte bei der Kreditanstalt für Wiederaufbau – alles Themen und Aspekte, die für mich neu waren und daher umso spannender.

Überrascht hat mich, wie viel aktuelle Tagespolitik mit Geschichte zu tun hat. Beim serbischen Botschafter etwa ging es um die Bedingungen für den EU-Beitritt. Aber mir wurde auch klar, wie der Zerfall Jugoslawiens bis heute fortwirkt, und wie tief verwurzelt nationale Konflikte sind. Das reicht teilweise Jahrhunderte zurück.

Politik erfordert sehr viel Feinarbeit. Aber auch ganz banale Dinge haben mich überrascht: etwa, dass die Brezen auf dem Tisch nicht nur als Dekoration, sondern tatsächlich zum Essen gedacht sind. Ein bisschen komisch fühlte es sich schon an, als Küken zwischen all den erfahrenen Politikprofis zu sitzen. Als 16-jährige Schülerin aus Augsburg nach Berlin zu kommen und dann so etwas zu erleben, das ist schon etwas sehr Besonderes.

Ich habe Einblicke in historische Zusammenhänge und Abläufe und den Alltag der Abgeordneten bekommen: Er ist intensiv und abwechslungsreich, und der Ton kann mitunter rau sein. Zimperlich geht man jedenfalls nicht miteinander um.

Kampfsport Das war alles sehr aufregend. Aber dank Aikido habe ich es geschafft, gelassen zu bleiben. Als Aikidoka lernt man, seine Worte und Taten mit Ruhe und Bedacht zu wählen – das kam mir auch an meinem letzten Tag im Bundestag zugute: bei einem Rollenspiel des Praktikantenprogramms im Deutschen Dom. In einem nachgebauten Plenarsaal wurden wir nach Fraktionen aufgeteilt und diskutierten über die Frage, ob bei Verkehrsteilnehmern ab dem 70. Lebensjahr eine Fahrtüchtigkeitskontrolle nötig sei.

Erst war ich schüchtern, dann trat ich aber doch als Sprecherin der CDU/CSU-Fraktion auf und unterstützte den von der SPD vorgebrachten Gesetzesentwurf.

Aber nicht alles in meinem Leben ist Geschichte, Politik und Aikido. Es gibt so vieles, was mich interessiert! Ich schreibe gern, gestalte Schmuck, spreche vier Sprachen und spiele E-Gitarre. Ich liebe es, Neues auszuprobieren und dranzubleiben, wenn ich Feuer gefangen habe. Ob das etwas mit meinem Namen zu tun hat? Vielleicht.

zukunft Ich kann mir gut vorstellen, später Interessen und Beruf zu verbinden. Egal, wofür ich mich entscheide, meine Eltern unterstützen mich. Sie wollen, dass ich mehr auf mich selbst höre als auf andere. Dieses Gefühl der Selbstsicherheit hat mir auch Iris Eberl mitgegeben. Gerade als Frau wird man oft unterschätzt – zu Unrecht.

Auf jeden Fall hat mich das Praktikum in vielem bestärkt: mich politisch zu engagieren, genauer hinzuschauen, Kontakte zu pflegen. Mir liegen Werte wie Ehrlichkeit und Menschennähe, eine klare Struktur – das vermittelt mir am ehesten die CSU.

Als Politiker hat man eine große Verantwortung; es ist leicht, den Leuten etwas Falsches zu erzählen, und sie glauben einem dann. Man muss ehrlich sein und seinen Weg gehen. Das ist eine Herausforderung – nicht nur für Politiker.

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