Berlin

Omar will in Frieden leben

Flüchtlinge vor dem Landesamt für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in Berlin-Moabit Foto: dpa

Erst geht ein Raunen durch die Menge, dann folgen empörte Schreie. Jemand hat versucht, über den Zaun zu klettern. Jemand wollte sich vordrängeln. Die anderen Flüchtlinge warten schon seit einer gefühlten Ewigkeit in der Kälte. Sie warten, um endlich Einlass zu finden in das Betonhochhaus des Landesamtes für Gesundheit und Soziales (LaGeSo) in der Turmstraße 21. Es ist Montagmorgen. Acht Grad. Alle warten. Die einen, um eine Nummer zu ziehen, die anderen, damit ihre Nummer aufgerufen wird. Einer der Flüchtlinge ist Omar. Er ist 17 Jahre alt und hat bereits das ganze Wochenende vor dem LaGeSo gewartet. Nachts hat er auf dem Bürgersteig geschlafen, eingehüllt in seinen blauen Pulli und eine dünne Fleecedecke.

»Wo sollte ich denn hin?«, fragt Omar, der in Wirklichkeit anders heißt, seinen Namen aber nicht in der Zeitung sehen möchte. Seine Nummer hat er am Freitag gezogen, aufgerufen wird sie wohl erst am Montag. Das hofft er zumindest. Freunde oder Verwandte in Berlin hat er nicht. Er ist allein gekommen. Seine Familie stammt ursprünglich aus Deir Ez-Zor, einer Stadt im Nordosten Syriens, die schon früh an den »Islamischen Staat« fiel. Sein Vater habe früher für die syrische Armee gearbeitet. Irgendetwas Wichtiges, erzählt er. Aber als der Krieg anfing, habe sein Vater sofort gekündigt.

Drei Jahre lang habe die Familie dann in der Türkei gelebt. In einem Camp in der Nähe von Urfa, etwa 50 Kilometer nördlich der syrischen Grenze. Schule? Er schüttelt den Kopf. Arbeit? Er nickt. Einen Monat habe er in Antalya gearbeitet. Dann sei die Polizei gekommen. Vor zwei Monaten schrieb ihm dann ein Bekannter aus Deutschland. Hier sei es besser, schrieb er. Hier gebe es Arbeit. Und echte Häuser. 4000 Euro, erzählt Omar, habe er für die Reise von Urfa bis nach Berlin gezahlt. Erst mit dem Boot und dann über die Balkanroute.

schicksale Übers Wochenende sind erneut Hunderte Flüchtlinge in Berlin angekommen, genau wie er. Und doch sind alle verschieden. In jedem Gesicht zeigt sich ein unermessliches Schicksal. Jeder hier ist geflohen. Vor Bomben und Krieg, Gewalt, Armut und Hoffnungslosigkeit. Aus allen Richtungen kommen weitere Flüchtlinge. Nicht alle sind Syrer. Es gibt auch viele Pakistanis und Afghanen, immer wieder hört man Russisch. Die meisten sind um die 20.

Aber es gibt auch Familien mit Kindern, es gibt ältere Ehepaare. Eine Frau ist da, mit ihren beiden behinderten Kindern. Am Anfang, vor einigen Wochen, als die ersten Flüchtlinge am LaGeSo eintrafen, mussten Freiwillige den größten Teil der Flüchtlingshilfe koordinieren. Über soziale Netzwerke wurde organisiert, wer wann wo Essen oder Kleidung verteilen sollte.

Auch Mitglieder der jüdischen Gemeinde sind in der Flüchtlingshilfe aktiv geworden, darunter Beter der Synagogen Fraenkelufer und Oranienburger Straße. Dennoch ist in den jüdischen Gemeinden eine deutliche Verunsicherung zu spüren.

sorgen Abraham Lehrer, Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland, sprach die Sorgen am Montag beim Neujahrsempfang der Israelitische Religionsgemeinschaft Württembergs in Stuttgart an: »Welches Verhältnis haben diese Menschen zu Israel? Viele Flüchtlinge sind zumindest mit einem Hass auf Israel groß geworden. Übertragen sie diese Abneigung auf alle Juden? Was geschieht mit den Generationen, die gar mit blankem Antisemitismus in ihrer Heimat erzogen wurden? Nutzen der IS oder andere Terrororganisationen die Situation, um Terroristen einzuschleusen?«, fragte Lehrer.

In der Tat sei der jahrelang gelernte Antisemitismus tief verankert, sagt Heiner Bielefeldt, UN-Sonderberichterstatter für Religions- und Weltanschauungsfreiheit. »Ich bin sicher, dass es in diesem Zusammenhang noch Probleme geben wird.« Diese Sorgen dürften nicht den jüdischen Gemeinden allein überlassen werden, fordert Bielefeldt. Im Gegenteil: Das würde nur Rechtsextremen und Islamfeinden in die Hände spielen. Vor allem aber dürfe man sich nicht von Vorurteilen leiten lassen.

»Jude, Christ, Muslim – mir egal«, sagt Omar. Er wolle nur ankommen und in Frieden leben. Tatsächlich scheint bei vielen Syrern die reflexhafte Assoziation von Deutschland mit den Nazis gebrochen zu sein. Merkel finden sie besser als Hitler.

Das war lange Zeit anders. Heiner Bielefeldt kennt die alte Begeisterung vieler Syrer für Hitler. Antisemitismus sei in der Region »ein riesiges Problem«. Allerdings nicht nur bei Muslimen. Er habe auch schon katholische Bischöfe und säkulare Feministinnen getroffen, die die Ursache für alles Übel der Welt bei den Juden sehen.

bedrohung Doch der latente Antisemitismus ist nur ein Aspekt, um den sich Juden in Deutschland sorgen. Durch soziale Medien geistern immer wieder Bilder, die IS-Kämpfer zeigen sollen, die sich als Flüchtlinge nach Europa geschmuggelt haben. Der IS selbst setzt diese Behauptungen in die Welt, rechte Islamfeinde in Europa greifen die Panikmache gerne auf. Guido Steinberg, Terrorismusexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik, sieht bisher keinerlei Anzeichen dafür, dass IS-Kämpfer gezielt nach Europa geschickt wurden.

Dennoch stellt der IS eine große und konkrete Bedrohung für Juden und jüdische Einrichtungen dar, meint Steinberg. Neben Rückkehrern und syrischen oder irakischen Dschihadisten gehe vor allem von der Szene deutscher Sympathisanten eine Gefahr aus: Ein Blick in die Vergangenheit auf die Entstehung des IS aus Al Qaida zeige die Fokussierung auf jüdische Ziele. Dennoch ist für Steinberg klar, dass die Gefahr von Terroranschlägen nicht mit den Flüchtlingen in Zusammenhang steht.

»Der IS hat nicht die Kapazitäten, um eine Invasion in Europa zu starten.« Maximal einige Dutzend Dschihadisten könne der IS in Europa einschleusen, ist Steinberg überzeugt. Ob daneben 50.000 oder 500.000 Flüchtlinge nach Europa kämen, sei für diese Frage irrelevant.

Im Gegenteil. Immer wieder erhalten die Sicherheitsbehörden Hinweise auf mögliche Dschihadisten. Meist kommen diese Hinweise von anderen Flüchtlingen, denen etwas aufgefallen ist. So wie Omar. Er ist sich sicher, in Österreich einen IS-Kämpfer gesehen zu haben – ein Tunesier, der in Syrien unter der schwarzen Flagge der Gotteskrieger gekämpft hat. Doch dann sei er sich doch nicht mehr ganz sicher gewesen. Am Ende habe er nichts gesagt. Er wolle schließlich keinen Ärger. Er will doch einfach nur in Frieden leben.

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