Kantoren

Nur zu den Feiertagen

Die Koffer hat er erst einen Tag vor der Abreise nach Deutschland gepackt. Doch Samy Czermak brauchte dafür nur ein paar Minuten, denn als freiberuflicher Kantor an den Hohen Feiertagen und Sukkot ist Czermak das Reisen gewohnt und verfügt dementsprechend über genug Routine. Tallit und Gebetsbuch liegen bei ihm immer griffbereit obenauf. Der Belgier amtiert in diesem Jahr als Kantor in der Synagoge Essen.

Auch David Schwezoff aus Budapest überlegte sich gut, was er für die nächsten Wochen zu den Hohen Feiertagen und Sukkot benötigen würde, und packte seine Tasche routiniert – der Kantor reiste von Budapest nach Augsburg, um dort in der Synagoge der Israelitischen Kultusgemeinde zu singen. Die meisten Kilometer musste allerdings Jossy Hofmann bewältigen, da der Kantor in Israel lebt: Nach der Landung in Deutschland stieg er in den Zug um und fuhr die restlichen Kilometer bis zur belgischen Grenze, denn er gestaltet in diesem Jahr die Gottesdienste in der Synagoge Aachen mit.

unterschiede Die 105 jüdischen Gemeinden, die beim Zentralrat der Juden in Deutschland aufgelistet sind, haben eines gemeinsam: Jede ist individuell, keine gleicht der anderen. Auch bei der personellen Ausstattung gibt es Unterschiede: So sind bei den Gemeinden mit einigen 1000 Mitgliedern mehrere Kantoren angestellt, in kleineren Gemeinden hingegen amtiert oft nur ein Rabbiner. So werden zu den Hohen Feiertagen und für Sukkot Kantoren eingeladen; in noch kleineren Gemeinden gibt es teilweise nur noch Vorbeter, denn mehr können sie sich finanziell nicht leisten. Früher hätten auch viel mehr Beter über die nötigen Kenntnisse verfügt, um Gottesdienste leiten zu können, heißt es aus vielen Gemeinden.

Aber da die Gottesdienste an den Hohen Feiertagen lange Passagen beinhalten, sei dafür ein Kantor erforderlich, meint Benno Bleiberg, ehemaliger Kultusdezernent der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Bis vor ein paar Jahren habe es auch in der Synagoge Fraenkelufer zu den Feiertagen Unterstützung von einem israelischen Kantor gegeben, sagt Bleiberg, aber mittlerweile gebe es genügend Kantoren in der Stadt – für freiberufliche Kantoren von außerhalb seien die Einsatzmöglichkeiten daher eher begrenzt. Das trifft nicht nur auf Berlin zu.

erfahrungen Dennoch bewerben sich immer noch Kantoren in Deutschland, um amtieren zu können. »Pro Jahr erhalte ich etwa drei bis vier Anschreiben«, sagt Rabbiner Henry Brandt. Eines davon kam vor ein paar Jahren von David Schwezoff. Der Rabbiner hörte sich den Kantor an, führte Gespräche und befand ihn für geeignet – auch weil er neben der schönen Stimme eine gute Aussprache hatte und modernes Hebräisch sprach, so Brandt.

Die guten Erfahrungen mit Kantor Schwezoff wirkten sich aus: Seit drei Jahren bucht ihn die Israelitische Kultusgemeinde Schwaben-Augsburg für ihre rund 1400 Mitglieder. »Es hat gut mit ihm geklappt«, sagt auch Vorstandsmitglied Arkadiy Lyubinskiy. Der Kantor habe die gewünschte traditionelle Liturgie gut umgesetzt. Deshalb hat die Gemeinde ihn auch dieses Jahr wieder eingeladen, diesmal nicht nur für die Hohen Feiertage, sondern auch zur Gedenkfeier des 9. November.

Schwezoff lernte als Junge Klavier und nahm Gesangsunterricht. Später studierte er Klavier und Orgel. Während seiner Ausbildung besuchte der Ungar jüdische Gemeinden in Großbritannien, Israel, Kanada, den USA und Deutschland. Seine Kantorenausbildung hat er an der Yeshiva University Belz School of Jewish Music in New York abgeschlossen und wurde anschließend Kantor in Ungarn. Aber er scheint sehr lernbegeistert zu sein, denn er ließ sich darüber hinaus auch noch zum Rabbiner ausbilden. In jüdischen Gemeinden in Bayern habe er ebenfalls amtiert, teilte er mit. Während seiner Tätigkeit zu den Gottesdiensten wohnte er in einem Hotel.

einsatz Mehr als 25 Jahre lang setzte sich Samy Czermak zweimal im Monat freitags ins Auto, um mehrere 100 Kilometer von Antwerpen nach Essen zu fahren: In Belgien lebt er, in Nordrhein-Westfalen amtiert er. Das tat er zu den Gottesdiensten zu Rosch Haschana und Jom Kippur wieder. Regelmäßig bezieht er dann während der Feiertage die Kantorenwohnung der Gemeinde, wo er sich auf den Gottesdienst vorbereitet.

»Ich bin etwas traurig, weil ich jetzt nur noch an den Feiertagen amtieren kann«, sagt er. Denn die Gemeinde hat nun umstrukturiert: Ein Rabbiner wurde eingestellt, deshalb wurden die Einsätze des Kantors gekürzt. Die finanziellen Möglichkeiten der rund 900 Mitglieder zählenden Gemeinde sind begrenzt – beide, Rabbiner und Kantor, kann sie sich nicht leisten.

»Die Tätigkeit eines Kantors ist nicht einfach ein Job – es ist mein Leben«, sagt Czermak. Denn er habe eine Verpflichtung vor Gott und den Menschen. Und in einem Essener Gemeindebrief heißt es: »Durch seine gute Stimme trägt er zum Lob G-ttes bei.« Czermaks Großvater war Kantor in Brüssel. Schon als Kind sang der heute 66-Jährige im Chor und hörte den Kantoren aufmerksam zu. Vor allem der Antwerpener Oberkantor Benjamin Müller, der zu einer Berühmtheit wurde, ist sein Idol – seine ganze Inspiration habe er von ihm, sagt Samy Czermak.

Mehrere Jahre lang lebte der Kantor in Kensington in Südafrika und amtierte dort. Heute hat er einen Vollzeitjob – er arbeitet 40 Stunden in der Woche als Salesman – und hat sich nun für die Feiertage extra Urlaub genommen, um sie in Essen zu verbringen. Im Gemeindehaus gibt es eine Kantorenwohnung – ein Schlafzimmer mit Küche. Czermak darf zudem die gut ausgestattete Gemeindeküche mitbenutzen und erhält Speisen auf Warmhalteplatten. »Unsere Mitglieder kennen ihn lange und gut. Die Beter freuen sich schon auf ihn«, heißt es aus der Gemeinde.

nischen Auch Jossy Hofmann hat es nicht weit von seinem Quartier bis zur Synagoge, denn er bekommt ein Zimmer im Aachener Jugendzentrum zur Verfügung gestellt. Seit mehr als 15 Jahren reist der Kantor, der in einer Jeschiwa in Israel gelernt hat, zu den Hohen Feiertagen in die 1250 Mitglieder starke Gemeinde, und alle sind glücklich, so Geschäftsführer Friedrich Thull. »Die Nische für Kantoren ist relativ klein«, sagt Mordechai Bohrer, seit einigen Jahren Rabbiner in Aachen. Denn nur wenige Kantoren sind bei den Gemeinden fest angestellt. Freiberufler haben oft noch weitere Jobs außerhalb der Synagoge. Flora Polnauer etwa, Tochter des Rabbiners David Polnauer, der in Aachen und in Duisburg amtierte und mittlerweile in Bern lebt, singt während der Feiertage als Kantorin in Paris. Darüber hinaus gibt sie als Sängerin Konzerte.

Ihr Markenzeichen: Sie mischt jüdische Musik mit modernen Sounds, etwa mit Hip-Hop. Nach einem Studium am Kantorenseminar des Potsdamer Abraham Geiger Kollegs hat sie sich für Budapest als Hauptwohnsitz entschieden.

Die 700 Mitglieder starke Dresdner Gemeinde hat 2013 Rabbiner Alexander Nachama engagiert – nach 74 Jahren ohne Rabbiner. Nachama verfügt neben der Rabbinerqualifikation auch über eine Kantorenausbildung und bestreitet die Gottesdienste ohne einen eigens für die Feiertage engagierten Kantor. Als Rabbiner und Kantor in Personalunion amtiert dieser Tage auch Salomon Almekias-Siegel in der 250 Mitglieder zählenden Weidener Gemeinde.

In Cottbus hingegen, mit 420 Mitgliedern, werden weder Rabbiner noch Kantor anwesend sein, sondern ein junger Mann, der »die Befugnis zum Amtieren« hat, heißt es dort. Hauptberuflich ist er Arzt in Berlin – doch verfügt er über Erfahrungen als freiberuflicher Chasan in der Berliner Synagoge am Fraenkelufer.

Dialog

Digital mitdenken

Schalom Aleikum widmete sich unter dem Motto »Elefant im Raum« einem wichtigen Thema

von Stefan Laurin  28.03.2024

Jugendzentren

Gemeinsam stark

Der Gastgeber Hannover ist hoch motiviert – auch Kinder aus kleineren Gemeinden reisen zur Jewrovision

von Christine Schmitt  28.03.2024

Jewrovision

»Seid ihr selbst auf der Bühne«

Jurymitglied Mateo Jasik über Vorbereitung, gelungene Auftritte und vor allem: Spaß

von Christine Schmitt  28.03.2024

Literaturhandlung

Ein Kapitel geht zu Ende

Vor 33 Jahren wurde die Literaturhandlung Berlin gegründet, um jüdisches Leben abzubilden – nun schließt sie

von Christine Schmitt  28.03.2024

Antonia Yamin

»Die eigene Meinung bilden«

Die Reporterin wird Leiterin von Taglit Germany und will mehr jungen Juden Reisen nach Israel ermöglichen. Ein Gespräch

von Mascha Malburg  28.03.2024

Hannover

Tipps von Jewrovision-Juror Mike Singer

Der 24-jährige Rapper und Sänger wurde selbst in einer Castingshow für Kinder bekannt.

 26.03.2024

Party

Wenn Dinos Hamantaschen essen

Die Jüdische Gemeinde Chabad Lubawitsch lud Geflüchtete und Familien zur großen Purimfeier in ein Hotel am Potsdamer Platz

von Katrin Richter  25.03.2024

Antisemitismus

»Limitiertes Verständnis«

Friederike Lorenz-Sinai und Marina Chernivsky über ihre Arbeit mit deutschen Hochschulen

von Martin Brandt  24.03.2024

Porträt der Woche

Die Kreative

Mona Yahia stammt aus dem Irak, spricht viele Sprachen, ist Künstlerin und Autorin

von Christine Schmitt  24.03.2024