Meinung

Nur ohne meine Kippa

»Wer möchte schon mit dem Risiko leben, als Jude beschimpft, bespuckt oder verprügelt zu werden?«: Problemviertel Wedding Foto: Gregor Zielke

Vor zwei Jahren bin ich nach dem Rosch-Haschana-Gottesdienst von der Synagoge Pestalozzistraße nach Hause gelaufen. Bis zur Ankunft in meiner Wohnung war mir nicht aufgefallen, dass ich beim entspannten Spaziergang durch die Straßen Charlottenburgs vergessen hatte, meine Kippa abzunehmen, und sie noch immer auf dem Kopf trug. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht, dass mich alle Welt als Jude hat erkennen können; eher war ich von der Möglichkeit des offensichtlich so unproblematischen Umgangs mit meinem Judentum angenehm überrascht.

Aber das hat sich spätestens seit dem vergangenen Sommer grundlegend geändert. Seit junge arabisch- und türkischstämmige Berliner auf israelfeindlichen Kundgebungen »Jude, Jude, feiges Schwein, komm’ heraus und kämpf’ allein!« und »Juden ins Gas!« skandierten, seit immer wieder Juden und Israelis auf der Straße oder in der U-Bahn angepöbelt und attackiert werden, seit in Brüssel, Paris und Kopenhagen Juden nur aufgrund ihrer Herkunft ermordet wurden, ist eines klar: Die Leichtigkeit auf dem Heimweg von der Synagoge, die mich meine Erkennbarkeit als Jude einfach hat vergessen lassen, ist verschwunden.

risiko Trotz der Warnungen, die ich jahrelang aus meiner Familie und von Freunden zu hören bekam, mich in der Öffentlichkeit bloß nicht als Jude zu erkennen zu geben, war meine Maxime bis vor Kurzem: In unserer freien, offenen und toleranten Gesellschaft brauche ich mich nicht zu verstecken, kann ich mit meiner Identität, in der das Jüdischsein einen wichtigen Platz einnimmt, offen und gelassen umgehen. Kleidung mit hebräischer Schrift, ein Gespräch in – holprigem – Hebräisch, eine Halskette mit Chai, wieso nicht, im Jahr 2015 in der Weltstadt Berlin?

In der Theorie möchte ich auch weiterhin daran glauben, mich nach meiner Fasson überall frei entfalten zu können; in der Praxis hat mich die Realität jedoch längst eingeholt. Es gibt keinen Grund, aus dem mir meine Jüdischkeit oder meine Nähe zu Israel unangenehm sein müssten. Aber ich werde mich davor hüten, diese in Neukölln, Teilen Kreuzbergs oder im Wedding, also jenen Problemvierteln, von denen Zentralratspräsident Josef Schuster kürzlich sprach, offen zu zeigen. Wer möchte schon im ganz normalen Alltag mit dem Risiko leben, beschimpft, bespuckt oder verprügelt zu werden, nur weil er jüdisch ist?

Ich wünsche mir, dass wir die Problemviertel zurückgewinnen und sie wieder zu ganz normalen Vierteln werden, in denen sich jeder frei bewegen kann, ohne seine Identität verstecken zu müssen. Umso fataler ist es, dass führende Berliner Politiker vor der Realität die Augen verschließen und das Problem verharmlosen.

Ignoranz Der Regierende Bürgermeister Michael Müller etwa nimmt die Ängste der Berliner Juden nicht ernst und weiß scheinbar besser, wo man sich mit Kippa auf dem Kopf zeigen kann. Integrationssenatorin Dilek Kolat redet die Problematik des massiven Antisemitismus in Teilen der muslimischen Bevölkerung klein, weil sie sich auf Statistiken der Polizei bezieht, in denen nahezu jede antisemitische Straftat automatisch als rechtsradikal eingeordnet wird, was nachweislich nicht zutrifft.

Gewaltbereite Antisemiten wird es zwar auch dann noch geben, aber mein Sicherheitsgefühl als Jude in Deutschland wird sich erheblich steigern, wenn wirklich alle Verantwortungsträger beginnen, das wachsende Antisemitismusproblem in Deutschland ernst zu nehmen – egal, ob es von muslimischen, rechts- oder linksradikalen Judenfeinden ausgeht.

Berlin

Koscher übernachten

lan Oraizer renovierte eine Villa und baute sie zu einem Hotel um, das religiösen Standards genügt. Sein Haus ist auf Wochen ausgebucht. Ein Ortsbesuch

von Christine Schmitt  01.12.2024

Köln

Für die Zukunft der Kinder

Bei der WIZO-Gala konnten 529 neue Patenschaften gewonnen werden

von Ulrike Gräfin Hoensbroech  01.12.2024

Porträt der Woche

Angst lässt sich lindern

Lisa Strelkowa studiert Psychologie und macht ein Praktikum in einer Tagesklinik

von Brigitte Jähnigen  01.12.2024

Berlin

75 Jahre Gesellschaft für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit

Am Sonntag wird gefeiert und auch ein neues Buch präsentiert

 30.11.2024

Potsdam

In der Tradition des liberalen deutschen Judentums

Die Nathan Peter Levinson Stiftung erinnerte an ihren Namensgeber

 28.11.2024

Berlin

Gemeindebarometer: 7. Oktober beeinflusst Stimmungsbild

Jüdische Bürger fühlen sich wegen des Hamas-Terrors weniger sicher

 28.11.2024

Ratsversammlung

Füreinander da sein

2024 war ein herausforderndes Jahr für die jüdische Gemeinschaft. Solidarität und Zusammenhalt waren zentrale Themen

von Katrin Richter  28.11.2024

ELES

»Rückzugsort und Thinktank«

Michal Or über das 15-jährige Bestehen des jüdischen Studienwerks, Austausch und unbequeme Themen

von Helmut Kuhn  28.11.2024

Jubiläum

Inspirierende Gemeinschaft

Das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk wird 15 Jahre alt. Wir haben Stipendiaten gefragt, was sie mit ELES verbindet

 28.11.2024