Porträt der Woche

Nützliche Dinge für zu Hause

»Als Kind überlebte ich die Leningrader Blockade – meine Mama tauschte Goldmünzen gegen Brot«: Zinowy Goldberg (86) lebt in Köln. Foto: Jörn Neumann

Porträt der Woche

Nützliche Dinge für zu Hause

Zinowy Goldberg ist Erfinder und war früher Ingenieur für Radiotechnik

von Matilda Jordanova-Duda  01.04.2020 17:49 Uhr

Bis vor Kurzem war ich praktisch jeden Tag mehrere Stunden im Erfinderklub IWIS-Köln. Klar, meine Frau war nicht sehr erfreut darüber, aber als Vorsitzender hatte ich viel zu tun. Wenn nicht die Corona-Krise dazwischengekommen wäre, würde ich jetzt unseren Mitgliedern helfen, Ausstellungen zu organisieren, Beschreibungen und technische Zeichnungen für die Patentanmeldung zu fertigen, Sponsoren zu suchen und die Jugendarbeit vorzubereiten. Das Schreiben von Berichten nimmt besonders viel Zeit in Anspruch.

Unser Klub hat um die 15 Mitglieder, meistens reifere Semester und russischsprachige Juden wie mich. Ungefähr die Hälfte von ihnen sind ständig aktiv und arbeiten unter anderem viel mit Schulkindern. Einige dieser Kinder haben inzwischen schon die Uni abgeschlossen und gute Jobs gefunden. Das zeigt mir, unsere Arbeit war nicht umsonst.

Wir sind Teil des INSTI-Netzwerks, das alle Erfinderklubs in Deutschland umspannt. Ich habe ziemlich schnell nach unserer Ankunft in Köln 1998 hier Anschluss gefunden. Seit zehn Jahren bin ich Vorsitzender, vorher war ich lange Zeit Vize. Wir haben nur einen ganz kleinen Raum im Bürgerzentrum Finkenberg, wo zwei Tische und ein Computer hineinpassen. Immerhin konnte man hier sitzen und sich besprechen. Auch eine Werkstatt haben wir in Köln-Porz. Diese ist etwa 15 Minuten zu Fuß entfernt.

Ich halte in Russland 17 Patente, in Deutschland eines.

Unsere Leute haben echt gute Ideen, muss ich sagen. Etwa einen Gurt für Diabetiker, der ihnen anzeigt, wohin sie die Spritze setzen sollen. Oder einen elektronisch gesteuerten Rollator. Alles Dinge, die die Menschen gut gebrauchen können – gerade in diesen Zeiten! Wir haben bisher 13 Preise bei der Internationalen Erfindermesse IENA abgeräumt.

Auch ich habe eine Silber- und eine Bronzemedaille gewonnen: für einen Sensor, der den Druck im Inneren eines Verbrennungsmotors anzeigt. Für die Entwickler ist das eine gute Sache, weil es die permanente Kontrolle der Motorfunktion erlaubt. Das Besondere: Es ist ein Hochtemperatursensor. Mit ihm kann man noch bei 400 bis 500 Grad messen. Normalerweise ist das nur bei Temperaturen bis maximal 150 Grad möglich.

PROTOTYP Ich habe ihn mehreren Herstellern von Messtechnik angeboten, und sie zeigten ein gewisses Interesse. Ich bestand jedoch darauf, beim Testen des Prototyps dabei zu sein, und bat um die Erstattung der Reisekosten.

wenn es ums Geld geht, gehen alle Firmen plötzlich auf Abstand. Ich hörte nur noch: »Wir melden uns bei Ihnen.« Man kann sich zwar darüber empören, aber andererseits muss man einsehen: Jede neue Entwicklung erfordert große Investitionen. Kein Unternehmen würde in etwas investieren, wenn es nicht 100-prozentig überzeugt. Die Firmen haben irgendeine eigene Lösung, die irgendwie funktioniert.

Ich kenne das von meiner früheren Arbeit: Wir waren fremden Vorschlägen gegenüber misstrauisch. Wer weiß, vielleicht hat jemand meinen Sensor sogar schon nachgebaut? Die technischen Daten standen den Firmen ja zur Verfügung. Aber das kann ich schwerlich herausfinden. Ich habe selbst erlebt, wie unsere Ideen auf der IENA fotografiert und kopiert wurden. Sei’s drum, zumindest nutzen sie den Menschen.

NOTGROSCHEN Von Beruf bin ich Ingenieur für Radiotechnik und Elektronik und war Leiter des Labors für Messtechnik und Automatisierung in einer Maschinenbaufabrik in St. Petersburg. Ich hatte fähige Mitarbeiter. Wir hatten mehrmals interessante Lösungen für komplizierte Probleme gefunden.

Ich halte in Russland 17 Patente. Der Großteil davon wurde in unserer Produktion umgesetzt. Auch in Deutschland habe ich ein Patent und einige Gebrauchsmuster. Für meine Erfindungen gab es Prämie. Dank dieser konnte meine Familie in der Sowjetunion einigermaßen gut leben. Sonst waren die Gehälter ja klein.

Ich wurde in Leningrad geboren und habe als Kind die Blockade erlebt.

Ich wurde in Leningrad geboren und habe als Kind die Blockade erlebt. Mama hat es geschafft, mich und meine ältere Schwester irgendwie durchzubringen. Sie hatte ein paar Goldmünzen als Notgroschen gespart, und als es ganz schlimm wurde, tauschte sie je eine Münze gegen einen Brotlaib. Das hat uns gerettet, aber wir standen schon auf der Kippe.

Ich war acht Jahre alt in dem schlimmsten Winter 1941/42. Ich erinnere mich noch, dass ich auf dem Bett lag, meine Hände geschwollen waren und ich vor Schwäche weder Arme noch Beine heben konnte. Damals starben jeden Tag 7000 Leute, insgesamt mehr als eine Million Einwohner. Aber die Stadt hat die Blockade überstanden.

Wir konnten Leningrad im Sommer 1942 verlassen. Da war es zwar schon besser, und es gab mehr zu essen. Meine Schwester wollte, dass wir bleiben, aber Mama sagte, einen zweiten solchen Winter überleben wir nicht.

KGB Mein Papa wurde 1937 als »Volksfeind« verhaftet und in ein Lager gesteckt. Er war ein einfacher Lokführer, Kommunist, und hatte im Bürgerkrieg auf der Seite der Roten Armee gekämpft. Aber er war ein geradliniger Mensch und nahm kein Blatt vor den Mund. Er kritisierte das, was man im Namen der Kommunistischen Partei tat. Deshalb hat man ihn der antisowjetischen Propaganda bezichtigt. 1943 ist er im Lager gestorben, keiner weiß, wie.

Ich habe Jahrzehnte später, in den 80er-Jahren, versucht, sein Schicksal aufzuklären. Ich habe an den KGB geschrieben, und irgendwann durfte ich das Dossier einsehen. Der KGB-Mitarbeiter sagte mir: Damals musste die Staatssicherheit einen Plan erfüllen. Hätte ein Mitarbeiter nicht genug Volksfeinde verhaftet, hätte man ihn selbst verhaftet. So war das System.

Früher sang ich im Chor meiner Fabrik. Wir gewannen sogar Preise.

Ich habe das Lager besucht, in dem mein Vater saß, und sogar einen ehemaligen Gefangenen aufgetrieben. Die »Politischen«, das wusste er noch, hatte man in den 40er-Jahren auf Lkws geladen und in die Berge gebracht, angeblich zum Arbeiten. Danach kamen die Lkws leer zurück. Auf dem Lagerfriedhof gibt es keine Namen, nur endlose Reihen mit Nummern.

Als Familienangehörige eines »Volksfeindes« hatten wir es nicht einfach. Wir waren in Charkow gelandet, und meine Mutter hoffte, dass man fern von Leningrad weniger Schwierigkeiten bekommt. Ich erzählte, dass mein Vater als Lokführer bei einem Unfall gestorben sei. Millionen Sowjetbürger versuchten damals, die Wahrheit über ihre Eltern zu verbergen.

REHABILITIERUNG Nach Stalins Tod konnten wir aufatmen. Ich arbeitete in einer Flugzeugfabrik und studierte nach Feierabend Ingenieurwesen. Sobald es möglich wurde, beantragte ich die Rehabilitierung meines Vaters. Mama hat ja immer behauptet, dass er unschuldig sitze. Und tatsächlich, nach einem halben Jahr haben wir die Bescheinigung bekommen, dass er vollständig rehabilitiert wurde.

Mehr noch, wir durften nach Leningrad zurückkehren und haben eine Einzimmerwohnung und drei Monatsgehälter meines Vaters als Entschädigung bekommen. Damals war das viel wert.

Dennoch hatte ich Probleme, als frischgebackener Ingenieur eine Stelle zu finden. Ingenieure waren gefragt, Radiotechnik und Elektronik hatten damals in den 60er-Jahren jedoch meist einen Militärbezug. Ich vermute, meine jüdische Nationalität und die Vergangenheit als Sohn eines Volksfeindes waren die Gründe für die vielen Absagen auf meine Bewerbungen. Aber das sagte mir keiner offen. Es hieß: »Die Stelle ist schon besetzt.«

So begab ich mich ins Parteikomitee der Stadt und erklärte dort, mein Vater sei vollständig rehabilitiert, und ich bekäme trotzdem keine Arbeit. Der Komitee-Mitarbeiter kannte die Situation, telefonierte ein paarmal, und ich durfte am nächsten Tag anfangen.

Wir hätten auch nach Israel oder in die USA auswandern können, aber mein Sohn wollte in der Heimat bleiben.

In den 90er-Jahren wurde das Leben in Russland sehr schwer. Wir hätten auch nach Israel oder in die USA auswandern können, aber mein Sohn wollte in der Heimat bleiben. Für meine Frau und mich war es von Deutschland aus einfacher, ihn zu besuchen. Wer Jiddisch konnte, lernte hier schnell die deutsche Sprache. In meinem Elternhaus wurde allerdings kein Jiddisch gesprochen. Aber wir haben es nicht bereut, nach Deutschland gekommen zu sein.

Als ich klein war, erzählte Mama oft Gutes über die Deutschen. Sie hat ihre Jugend in Südrussland verbracht, als dieser Teil des Landes 1918/19 unter deutscher Verwaltung war. Mama und ihre Schwestern gingen mit den deutschen Soldaten tanzen, haben von ihnen Lebensmittel geschenkt bekommen und nie ein schlechtes Wort gehört. Sie konnte sich gar nicht vorstellen, dass diese netten Kerle nun plündern, töten und brandschatzen.

Deshalb wuchs ich in dem Glauben auf, dass die Deutschen an sich nicht übel sind, aber die Hitlerpropaganda sie dazu gebracht hat. Ich kenne diese Art Massenpsychose aus der Sowjet­union. Da brüllten die Leute auf den Versammlungen: »Rotten wir die Volksfeinde aus!« Dabei waren es ihre Nachbarn, Freunde und Parteigenossen.

HOBBY Selbst etwas Neues zu erfinden, habe ich heute keine Lust mehr und auch keine Zeit. Das ist ein ungeheurer Aufwand, und ich habe verstanden, dass nur ein Bruchteil der Ideen auf den Markt kommt. Aber ich habe ein weiteres Hobby: das Singen. Als ich jung war, sang ich nur für mich allein. Gelernt habe ich es nie, wir hatten kein Geld für Gesangsunterricht. Damals gab es oft Opernarien im Radio, und ich sang einfach mit. Später sang ich im Chor meiner Fabrik. Wir gewannen sogar Preise.

In Köln war ich zunächst in einem deutschen Chor, aber jetzt ist es mir zu beschwerlich, hinzufahren. Deshalb singe ich in einem russischsprachigen Chor im Jüdischen Zentrum von Köln-Porz mit. Wir haben klassische Lieder und Romanzen im Repertoire. Die Omas kommen zu unseren Konzerten und haben ihren Spaß. Ab und zu traut man mir sogar einen Soloauftritt zu.

Aufgezeichnet von Matilda Jordanova-Duda

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