Porträt der Woche

»Nachts kommen die Gedanken«

Tatiana Muchnik hat ein großes Problem: ihre Schlaflosigkeit

von Annette Wollenhaupt  28.01.2010 00:00 Uhr

»Ich lese gern. Zur Zeit mag ich vor allem historische Romane«: Tatiana Muchnik Foto: Judith König

Tatiana Muchnik hat ein großes Problem: ihre Schlaflosigkeit

von Annette Wollenhaupt  28.01.2010 00:00 Uhr

Es ist 15 Jahre her, dass ich mit meiner Familie nach Deutschland gekommen bin. Wir wollten von Anfang an nach Frankfurt am Main, denn meine Schwester war schon hier, mit ihrem Mann und ihrem Sohn. Ich glaube, Frankfurt ist eine wunderschöne Stadt. Sehr gemütlich, und die Infrastruktur ist gut organisiert. Die Stadt ist nicht so groß, aber sehr bekannt, mit einem regen Kulturleben. Kultur ist für uns immer wichtig gewesen. Wir kommen aus Moskau, und schon dort waren wir mit Menschen zusammen, die sich für Kunst, Kino und Literatur interessiert haben. Mein Mann und ich, wir waren beide 65 Jahre alt, als wir nach Deutschland auswanderten. Mein Mann arbeitete bis dahin als Funkingenieur, ich gab Deutschunterricht an einer Akademie für Erdöl und Gas. Ich war dort sehr lange beschäftigt, ungefähr 40 Jahre.

Zwangs-WG Wenn ich an unser Leben in Moskau zurückdenke, dann muss ich sagen: Es war nicht leicht. Als wir vier Jahre verheiratet waren, unsere kleine Tochter schon auf der Welt war, erkrankte mein Mann an Tuberkulose. Es war eine ansteckende Form. Damals wohnten wir in einer sogenannten Kommunalka, einer Wohnung, die wir mit vier anderen Familien teilten. Es gab kein Bad, nur eine gemeinsame Küche. Ich weiß noch ganz genau, wie wir uns im Flur eine kleine Badeecke gebaut haben. Hier in Deutschland kann man sich das Leben in so einer Kommunalka gar nicht vorstellen. Natürlich ärgerte man sich gegenseitig, beleidigte sich auch mal. Also, das war kein lustiges Leben. Als mein Mann Tbc bekam, hatten wir dann Anspruch auf eine eigene Wohnung. Es vergingen zwei Jahre, bis wir einziehen konnten. Und das auch nur, weil ich einen Beamten bestochen habe. Das war mir so peinlich. Ich musste das Geld in einen Umschlag stecken und es ihm heimlich geben. Wir zogen dann in eine Zweizimmerwohnung, und unser Leben wurde wirklich ein bisschen leichter und schöner.

Georg, mein Mann, stammt ursprünglich aus Kiew. Einer meiner Cousins, der auch dort lebte, machte uns miteinander bekannt. Damals wollten alle in Moskau wohnen. Man konnte das Leben dort nicht mit dem Leben woanders vergleichen. Da bekam man alles: Fleisch, schöne Kleider, Schuhe. Ich dachte damals: Na, vielleicht liebt Georg ja nicht mich, sondern meinen Wohnsitz. Was mich an ihm fasziniert hat: Er mag Musik, hat ein sehr gutes, fast professionelles Gehör und singt auch wunderschön. Er sagt oft, dass es ein Fehler war, Ingenieur geworden zu sein. Dass er viel lieber Kunstgeschichte studiert hätte. Wir waren beide 25, als wir uns zum ersten Mal begegnet sind. Zwei Jahre später haben wir geheiratet. 1958 kam unsere Tochter Alla auf die Welt. Auch sie lebt heute in Frankfurt, mit ihrem Mann und Michael, ihrem 18-jährigen Sohn.

Ich weiß noch, wie es war, als wir alle am Frankfurter Flughafen ankamen. Wir wollten immer weg aus der Sowjetunion, aber für mich persönlich war die Ankunft sehr problematisch. Dass wir nach Deutschland gegangen sind, lag vor allem an der Sprache. Mein Vater entstammt einer sehr gebildeten Familie, in der Deutsch und Hebräisch gesprochen wurde. Dennoch war die erste Zeit hier sehr schwer für mich. Nach fünf Jahren kehrte ich zum ersten Mal nach Moskau zurück. Alle sprachen Russisch, das war wunderbar. Man muss sich nicht mögen, um sich etwas zu sagen, es war wie Luft zum Atmen.

grundsicherung Hier in Frankfurt wohnen wir in einer großen Altenwohnanlage der Arbeiterwohlfahrt. Sie besteht aus mehreren Hochhäusern. Jeder zweite von uns Bewohnern kommt aus der ehemaligen Sowjetunion. Wir haben alle nur wenig Geld, bekommen Grundsicherung. Wir sind alte Menschen mit allen Krankheiten und Sorgen, die dazugehören. Doch wir sind zufrieden, es geht uns hier besser als in Russland.

Ich gebe Deutschunterricht, sowohl in der jüdischen Gemeinde als auch in der Altenbegegnungsstätte der AWO. Mittlerweile fällt mir das schwer. Ich bin eben alt, und jedes Mal ein paar Stunden am Stück zu unterrichten, ist sehr anstrengend für mich. Außerdem bin ich eine Frau und muss deshalb bügeln, Essen zubereiten, eben den Haushalt versorgen. Und weil mein Mann fast gar nicht Deutsch spricht – er ist zu faul zum Lernen –, bleiben auch alle Behördengänge an mir hängen. Ein großes Problem ist meine Schlaflosigkeit. Nachts kommen all die Gedanken in den Kopf, und es sind keine lustigen. Es gibt Leute, die erinnern sich nur an die guten Dinge ihres Lebens, bei mir ist es umgekehrt.

Mein Schwager lebt im Jüdischen Altenzentrum, ich besuche ihn zweimal in der Woche, am Samstag und Mittwoch. Ich bringe ihm Früchte mit, Hering oder Lachs und etwas Süßes. Das ist schlimm, weil er Diabetiker ist, aber er freut sich so. Dass es hier in Deutschland Pflegeheime gibt, ist für uns eine Rettung. Die alten Menschen werden betreut und gut beköstigt. Ich habe einmal ein Altenheim in Russland besucht – schrecklich! Kein Vergleich. Trotzdem: Wenn ich von so einem Besuch im Altersheim nach Hause zurückkomme, fühle ich mich immer wie krank. Ich denke dann, jetzt wirst du auch bald an der Reihe sein.

Gestern haben uns meine Tochter und ihr Enkel besucht. Mein Schwiegersohn ist in Moskau geblieben. Er ist Regisseur am Moskauer Staatstheater und inszeniert gerade ein Stück von Friedrich Dürrenmatt. Es ist eine schwierige Situation: Jedes Jahr ist mein Schwiegersohn nur drei bis vier Monate in Deutschland. Leider kann er kein Deutsch. Und ein Regisseur ohne Sprache, das geht eben nicht. Außerdem hat er einen 40 Jahre alten Sohn aus erster Ehe, der an Multipler Sklerose leidet und in Moskau lebt. Mein Enkel vermisst seinen Vater. Bevor er gestern zu uns kam, war er im Fitnessstudio. Er sagte zu mir: »Ich bin sehr hungrig, bitte gebt mir was zu essen.« Danach spielte er mit seinem Opa Schach.

heimat Meine Tochter spricht perfekt Deutsch und hat sehr viele deutsche Freunde. Mein Mann und ich, wir interessieren uns für alles, was in Russland passiert, verfolgen alle wichtigen politischen Sender unserer ehemaligen Heimat. Meine Tochter lacht nur darüber, wenn wir wieder anfangen, über Russland zu reden.

Ich lese sehr gern. Heine, Goethe, aber auch Böll und Feuchtwanger. Ich habe einen Ausweis für die Stadtbücherei, gehe jeden Monat hin und hole mir neue Bücher. Zur Zeit mag ich vor allem historische Romane. Die sind spannend und gleichzeitig eine gute Quelle für geschichtliches Wissen. Die glücklichste Zeit ist für mich die Zeit vor dem Schlafengehen. Dann lese ich im Bett, mein Mann schaut Fernsehen. Nach der Lektüre google ich manchmal ein bisschen. Das Leben von Heinrich II. fand ich besonders interessant. Jetzt bin ich so gut informiert, dass ich seine Geschichte erzählen kann. So etwas ist ganz wunderbar.

Wir haben auch schon viele schöne Ausflüge gemacht. In wenigen Tagen bietet die AWO eine Fahrt zur Monet-Ausstellung nach Wuppertal an. Mein Mann wird die Gruppe auf Russisch in das Thema einführen. Und ich bin bei solchen Fahrten dann immer für die Übersetzung ins Deutsche zuständig. Aber ich lese den Text nicht selbst vor, das macht der Leiter des Seniorentreffs. Ich finde, meine Aussprache ist nicht gut genug.

Vor zwei Wochen haben wir in der Altenwohnanlage das neue russische Jahr gefeiert. Es kamen auch viele deutsche Bewohner. Wir haben gesungen, getanzt, gegessen und getrunken. Früher haben wir Frauen russisch gekocht. Aber weil das für uns mittlerweile zu anstrengend ist, gab es jetzt einfach nur Wurst, Käse, Salate. Und ein bisschen Wodka. Ein russisches Fest ohne Wodka geht nicht.

Aufgezeichnet von Annette Wollenhaupt

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