Porträt der Woche

My gawarim pa-russki

»Die Liebe zu Büchern kommt von meinem Vater«: Victor Kravets (51) Foto: Jörn Neumann

Weil ich Lehrer bin, hängt meine Woche zum großen Teil vom Stundenplan ab. Außerdem habe ich drei Kinder, daher spielen – wenn nicht gerade Ferien sind wie jetzt – auch die Stundenpläne meiner Söhne eine Rolle. Der jüngste ist fünf Jahre alt, die beiden älteren sind sieben und acht.

Ich lehre an der Kölner Universität am Slavischen Institut russische Sprache und Literatur. Ich bin Philologe. Studiert habe ich an der Uni in Kiew in der Ukraine. Zum ersten Mal kam ich im November 2003 nach Köln zu einer Konferenz über russische Kultur. Dort lernte ich meine spätere Frau kennen, die ebenfalls am Slavischen Institut unterrichtet. In den beiden Jahren danach hatte ich ein Heinrich-Hertz-Stipendium. Dann heirateten wir. Meine Eltern wanderten dann ebenfalls nach Deutschland aus.

Neben meiner Lehrtätigkeit am Institut gebe ich an der Melanchthon-Akademie, einer Institution der evangelischen Kirche, ehrenamtlich Kurse über jüdische Geschichte. Und seit etwa einem Jahr leite ich den Literatursalon in der Kölner Synagogen-Gemeinde. Den hat vor 15 Jahren eine Gruppe sehr engagierter kluger Leute gegründet. Das Treffen findet alle zwei Monate im Großen Gemeindesaal statt. Es kommen ungefähr 50 Besucher.

verbindung Unsere Themen kreisen um das Judentum und die Verbindung zwischen russischer Kultur und Judentum. Das letzte Mal war es »Boris Pasternak und das Judentum«. Pasternak ist bekannt als der Autor des Romans Doktor Schiwago und gehört zu den wichtigsten russischen Dichtern des 20. Jahrhunderts, er hat aber auch viel Lyrik verfasst. Den Literaturnobelpreis bekam er sowohl für die Lyrik als auch für seinen Roman. Bei meinem Vortrag habe ich besonderes Augenmerk auf seine Gedichte gelegt sowie auf das jüdische Thema im Roman Doktor Schiwago und in seinen Briefen.

Man muss sich natürlich auf das Publikum einstellen. Ich habe es mit sehr gebildeten und belesenen Leuten zu tun. Der größte Teil der Zeit wird von meinem Vortrag in Anspruch genommen, aber es gibt auch eine Diskussion. Eigentlich würde ich mir wünschen, wenn unsere Treffen noch mehr der Tradition der Salonkultur entsprächen und der Austausch über die Literatur stärker wäre. Aber durch die sehr angespannte politische Situation in der Ukraine schweift das Gespräch oft ab. Die Atmosphäre ist also nicht so entspannt, wie man es sich von einem Salon wünschen würde, sondern oftmals durch den Druck politischer Verhältnisse auch etwas aufgeheizt. Aber ich bin sehr froh über die Veränderungen in der Ukraine und hoffe, dass sich eines Tages alles zum Guten wenden wird.

Zeichnen Neben meinen Lehrtätigkeiten zeichne ich sehr gern. Als Philologe bin ich davon überzeugt, dass das Wort sich durch Zeichnungen erfüllt und dass eine Zeichnung das Wort erklären, begleiten, stützen kann. In letzter Zeit habe ich weniger Zeit zu zeichnen, aber ich zeichne besser.

Manchmal komme ich ein bisschen in Bredouille, alle meine religiösen Pflichten zu erfüllen. Aber ich bin beruhigt, denn meine Kinder tun das in der Schule und im Kindergarten. Meine Frau ist keine Jüdin, wir haben uns aber schnell entschieden, dass die Kinder jüdisch erzogen werden sollen. Und wir hoffen, dass sie irgendwann selbst die Entscheidung treffen, Barmizwa zu machen. Wir waren uns von Anfang an einig, dass die Kinder religiös erzogen werden sollen. Denn wir glauben, dass es das Einzige ist, was sie vor dem Wahnsinn in der Welt etwas schützen kann.

Ich selbst habe mich erst spät, als junger Erwachsener, bewusst dem Judentum zugewandt. Ich habe intensiv die Religion und alle Bräuche und Riten gelernt. Das war noch in Kiew, an einer hochschulartigen Einrichtung für Erwachsene. Dort wurde das jüdische Leben anhand eines jüdischen Kalenders über ein Jahr hinweg mit Tora- und Talmudlernen sowie begleitenden Vorlesungen vermittelt. Ausgelöst wurde mein Interesse durch die Beschäftigung mit Büchern. Ich wollte Talmud und Tora im Original lesen lernen. Und ich wollte Antworten finden auf Fragen, die mich damals persönlich sehr aufgewühlt haben. Fragen in der Art einer Selbstfindung und jüdischen Identifikation.

Bücher Die Liebe zu Büchern kommt von meinem Vater. Als Erstes muss ich ihm dankbar sein, denn er hat sein ganzes Leben lang Bücher gesammelt. Seine Bibliothek bestand aus russischen und deutschen Büchern. Mein Vater war ein großer Freund der deutschen Kultur. Er hatte in Kiew an der deutschen Schule Abitur gemacht, noch vor dem Zweiten Weltkrieg. Meine Vorfahren sind erst Ende des 19. Jahrhunderts aus Deutschland in die Ukraine ausgewandert.

Mein Vater interessierte sich natürlich auch für jüdische Bücher, aber in der Zeit des Kommunismus war es fast unmöglich, an solche zu kommen. So erfolgte meine erste Begegnung mit dem Judentum über den Weg der Belletristik und zwar über Thomas Manns Roman Joseph und seine Brüder.

Inzwischen sind meine Eltern beide gestorben. Ich habe noch Freunde in der Ukraine, doch keine Verwandten mehr, dafür aber in Russland. Insofern sind wir hier in Köln nun eine kleine Familie.

Das Sprachbild in unserer Familie sieht so aus: Ich selbst bin durch die Familie und später durch meine schulische und universitäre Ausbildung auf einem guten russischen Niveau. In der Schule habe ich natürlich auch Ukrainisch gelernt, später dann auch Hebräisch. Jetzt fange ich an, etwas zögernd Deutsch zu lernen. Mit meiner Frau spreche ich vor allem Russisch. Mit den Kindern sprechen wir in beiden Sprachen, aber sie antworten in der Regel auf Deutsch. Und natürlich haben sie jetzt auch Hebräisch im Kindergarten und in der Schule. Sie singen vor allem viel auf Hebräisch. Ein buntes Bild.

Reisen An Köln faszinieren mich vor allem das Altertum und die Ausgrabungen auf dem Rathausplatz wie die Mikwe und das zukünftige jüdische Museum. Und natürlich finde ich auch den Dom beeindruckend. In Worms in Rheinland-Pfalz gefällt mir das jüdische Viertel gut, in Mainz der jüdische Friedhof. Ich mag Deutschland, und ich habe das Gefühl, dass es mir nicht fremd ist. Aber wir reisen auch gern in andere Länder: Vor vier Jahren waren wir mit der Familie in Israel, und wir sind auch schon in Italien, Frankreich und der Türkei gewesen.

Im Moment führen wir ein sehr intensives Leben. Gemeinsam mit anderen haben wir einen Verein für europäische Erinnerungskultur gegründet. Er heißt »Mnemosina e.V.«, benannt nach der griechischen Göttin der Erinnerung. Hierbei spielen auch das Jüdische und russische Themen eine wichtige Rolle. Meine Frau und ich arbeiten außerdem ehrenamtlich in einem Verein mit, der »Milch und Honig« heißt und sich mit jüdischer Alltagskultur befasst. Dort halten wir Vorträge und organisieren gemeinsame Feiern.

Seitdem wir am Slavischen Institut einen neuen Direktor haben, gibt es spannende Veränderungen. Er interessiert sich sehr fürs Judentum, und ich werde beispielsweise passend zu der Vorlesung, die der Professor halten wird, einen speziellen Kurs durchführen, der den Slavistik-Studenten die Welt des Judentums nahebringen soll. Es ist für mich wie eine Sammlung all dessen, was wir in den vergangenen Jahren begonnen und angedacht haben.

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