Gemeindecoaching

Mut zur Veränderung

Erste Analysen des Gemeindecoachings zeigen: Junge Menschen werden dringend benötigt. Foto: Getty Images

Die Gemeinde für die Zukunft fit zu machen, das ist für Elisabeth Schlesinger und Judith Neuwald-Tasbach das Wichtigste. Deshalb haben sich die Gemeindevorsitzenden aus Oldenburg und Gelsenkirchen für das Gemeindecoaching beworben.

Anfang vergangenen Jahres war das Programm des Zentralrats der Juden angelaufen, nachdem die bundesweite Umfrage, das sogenannte Gemeindebarometer aus dem Herbst 2019, Stärken und Schwächen sowie Bedürfnisse der Gemeindemitglieder erstmals konkret benannt hatte. Gefördert wird das Projekt vom Bundesinnenministerium, dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sowie vom Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung.

Herausforderungen »Es kommen Veränderungen auf uns zu, denen wir nicht ausweichen können und wollen«, beschrieb Zentralratspräsident Josef Schuster die Herausforderungen der kommenden Jahre. »Wir müssen jetzt handeln. Niemand wird alleingelassen. Das gilt für kleine und für größere Gemeinden«, fügte Schuster hinzu.

»Wir sind sehr glücklich und sehr dankbar, dass wir diese Möglichkeit durch den Zentralrat bekommen«, sagt Judith Neuwald-Tasbach aus Gelsenkirchen. »Wenn man keinen Mut hat, etwas zu verändern, wird sich auch nichts ändern, und es bleibt alles beim Alten. Damit bringen wir die jüdische Gemeinschaft nicht in die Zukunft«, ist sie überzeugt. Aus ihrer jahrelangen Erfahrung als Gemeindevorsitzende weiß sie, wie sich die Gemeinden bereits verändert haben.

Es gibt viele Möglichkeiten der Fortbildung auch für Gemeindevorstände, dennoch hakt es an der einen oder anderen Stelle, sagt Judith Neuwald-Tasbach aus Gelsenkirchen.

»Wir haben heute mit ganz anderen Herausforderungen umzugehen, als dies nach dem Krieg der Fall war«, sagt sie. Man müsse sehr viel lernen und wissen, um eine Gemeinde führen zu können. »Es gibt dafür inzwischen zwar alle möglichen Fortbildungsmöglichkeiten, dennoch hakt es an der einen oder anderen Stelle«, sagt Neuwald-Tasbach.

Wie auch Elisabeth Schlesinger weiß sie, dass man beim Gemeindecoaching »sehr offen sein muss, um die Schwachstellen auch zu erkennen und sich helfen zu lassen«. Es erfordere Mut, alt eingefahrene Strukturen zu verändern, sagt Elisabeth Schlesinger aus Oldenburg. »Wir haben zum Beispiel festgestellt, dass wir die Verantwortung auf verschiedene Schultern verteilen müssen, um in Notsituationen handlungsfähig zu bleiben.«

Mittlere GENERATION Ein weiteres Problem: Wie spricht man vor allem die mittlere Generation der 40- bis 65-Jährigen an, damit sie sich in der Gemeinde engagiert? Das sei gleichzeitig die Altersgruppe, die in der Mitgliederstatistik den höchsten Prozentsatz einnimmt und in einer Sandwich-Situation steckt, in der sie die Pflege der Eltern übernehmen und gleichzeitig die Bildung ihrer Kinder sichern soll.

Verantwortlichkeit zu dezentralisieren, das sei ungeheuer wichtig: Durch Krankheit oder andere Umstände könnten wichtige Personen bisweilen ausfallen, die Arbeit müsse dennoch erledigt werden. »Wir standen vor einem solchen Problem, bei dem uns das Team des Gemeindecoachings durch seine Kontakte und gute Vernetzung sehr schnell helfen konnte. In dieser Situation haben wir sofort davon profitiert«, betont Schlesinger.

»Es geht darum, in Einzelgesprächen vertraulich und dadurch authentisch Einblick zu gewinnen, wo die Stärken, aber vielleicht auch Schwächen liegen.«

Geschäfstführer Daniel Botmann

Aufgrund der Analyse habe Oldenburg seine Jugendarbeit und die Arbeit für junge Familien mithilfe von zwei Minijobs verbessern können. Corona habe im Übrigen den Zeitplan für ein Seminar für Vorbeter durcheinandergebracht. Das werde jetzt am langen Schawuot-Wochenende stattfinden. Auch eine Lerneinheit zur Chewra Kadischa sei geplant.

Analyse Genau das ist auch der Ansatz des Coachings. »Wir wollen mit unseren Fragen und Analysen ja niemanden bloßstellen«, betont Daniel Botmann, Geschäftsführer des Zentralrats der Juden. »Es geht darum, in Einzelgesprächen vertraulich und dadurch authentisch Einblick zu gewinnen, wo die Stärken, aber vielleicht auch Schwächen liegen, um gemeinsam zu überlegen, was man verbessern kann«, sagt Botmann.

In Gelsenkirchen und Oldenburg wurden diese Gespräche im August und September vergangenen Jahres geführt. Damit sie auch einen repräsentativen Einblick ermöglichen, wurden »Menschen, die regelmäßig oder nicht ganz so häufig in der Gemeinde sind, alte und junge Leute, Mitarbeiter der Gemeinde, oder nur normale Mitglieder befragt«, erklärt Neuwald-Tasbach.

Zudem habe sie sich darum bemüht, dass die Gespräche in angenehmer Atmosphäre stattfinden. »Die Teilnehmer sollten das Gefühl haben, ein privates Gespräch zu führen, das sagen zu können, was sie wirklich denken, sie sollten sich sicher sein, dass ihre Aussagen vertraulich behandelt werden«, betont sie. Vertraulichkeit sei oberstes Kriterium. Anders wäre es auch gar nicht möglich, ein wahrheitsgetreues Bild zu vermitteln.

Fortsetzung Das Team des Gemeindecoachings hatte Oldenburg und Gelsenkirchen sowie die Gemeinden in Chemnitz, Frankfurt am Main, Leipzig, Wuppertal sowie den Landesverband Westfalen-Lippe seit Sommer vergangenen Jahres jeweils zwei oder drei Tage lang besucht und die Interviews geführt. Danach kam die Zeit der Analyse. »Diese benötigt rund einen Monat«, erklärt Botmann das Verfahren.

Dann gebe es eine Rückkopplung mit der jeweiligen Gemeinde. Der Situations- und Bedarfsanalyse folgt dann die strategische Planung, eine Begleitung durch langfristige Entwicklungsprozesse. In diesem Jahr werden nach einer zweiten Bewerbungsrunde weitere Gemeinden und Landesverbände in das Projekt aufgenommen.

Sicher habe die Gemeinde bereits vor dem Coaching Schwächen erkannt, aber das Team könne professionell helfen, habe das nötige Know-how, Kontakte und praktische Werkzeuge sowie passgenaue Fortbildungsmaßnahmen, die der eigenen Gemeinde nicht in der Form zur Verfügung ständen, sagt Schlesinger. »Wir wollen Impulse für attraktive und wirkungsvolle Bildungsprogramme«, beschreibt Zentralratsgeschäftsführer Botmann das Projekt.

potenzial Diese wollen Schlesinger und Neuwald-Tasbach gerne annehmen. Aber beide wissen schon jetzt: »Soll die Gemeinde für die Zukunft fit werden, brauchen wir junge Kräfte.« Neuwald-Tasbach will gezielt Jugendliche ansprechen, über ihr Potenzial sprechen und ihre persönliche Einstellung kennenlernen, wie sie sich einbringen möchten.

Die Oldenburger Gemeinde lädt schon jetzt geeignete Mitglieder zu nicht-vertraulichen Vorstandssitzungen ein, um sie mit einzubinden und mit der Arbeit vertraut zu machen.

Elisabeth Schlesinger hofft die 40- bis 65-Jährigen in ihrer Oldenburger Gemeinde durch ein ausgewähltes Kulturprogramm ansprechen zu können.

Bei vielen guten Ansätzen wie etwa der Gruppe der jungen Familien, die beide Gemeinden haben, wisse sie nicht, »wie wir die 40- bis 65-Jährigen in die Gemeinden holen, dafür habe ich noch kein Patentrezept gefunden«, bedauern Schlesinger und Neuwald-Tasbach. »Bei den jungen Familien haben wir eine gute Resonanz, viele Kinder kommen in den Religionsunterricht«, sagt Neuwald-Tasbach.

kulturprogramm Mit einem entsprechenden Kulturprogramm möchte Schlesinger diese mittlere Generation gewinnen. Die Oldenburger Gemeinde feiert in diesem Jahr 30 Jahre Wiedergründung nach dem Krieg, ein angemessener Anlass, gemeinsam mit dem Zentralrat das Kulturprogramm zu besprechen.

Auf 151 Jahre jüdische Tradition schaut die Gelsenkirchener Gemeinde zurück. »Diese Tradition wollen wir behalten und denjenigen in unserer Gemeinde vermitteln, die das Judentum nicht von Kindesbeinen an gelernt haben«, erhofft sich Judith Neuwald-Tasbach. Jüdische Tradition ist ihr wichtig. »Ohne sie haben wir keine Zukunft. Hier erhoffen wir uns Unterstützung für das ›Wie machen wir das?‹.«

Das Projekt läuft zunächst über drei Jahre. »Dann werden wir sehen, wie hoch der Bedarf bei den Gemeinden noch ist und ob wir vielleicht spezielle Coachings zu bestimmten Fragen oder für bestimmte Zielgruppen anbieten«, hatte Zentralratspräsident Schuster angekündigt. Corona habe das Coaching bislang zwar nicht empfindlich beeinflusst, aber Online-Seminare und Schulungen haben bereits einen Weg in die Zukunft gewiesen. Jetzt brauche es verlässlich junge Menschen, die verantwortungsvoll die Gemeinden in die Zukunft führen, sagen sowohl Schlesinger als auch Neuwald-Tasbach.

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024

Berlin

Zeichen der Solidarität

Jüdische Gemeinde zu Berlin ist Gastgeber für eine Gruppe israelischer Kinder

 15.04.2024

Mannheim

Polizei sucht Zeugen für Hakenkreuz an Jüdischer Friedhofsmauer

Politiker verurteilten die Schmiererei und sagten der Jüdischen Gemeinde ihre Solidarität zu

 15.04.2024