Als ich noch keinerlei Deutschkenntnisse hatte, gab es ein Wort, das häufig in meinen Gesangstexten auftauchte: Sehnsucht. Ich fühlte intuitiv, welche tiefere Bedeutung es hat. Meiner Ansicht nach gibt es in anderen Sprachen kaum einen vergleichbaren Begriff. Inzwischen spreche ich Deutsch und liebe dieses Wort. Die Sehnsucht passt gut zur deutschen Seele.
1986 kam ich in Tel Aviv zur Welt, als ältere von zwei Töchtern. Vor Kurzem hat meine Schwester ihr erstes Kind bekommen, ich bin sofort zu ihr nach Israel geflogen, schließlich bin ich zum ersten Mal Tante geworden, was für ein unglaubliches Gefühl! Unsere Eltern wurden in Israel geboren, allerdings sind sie unterschiedlich aufgewachsen.
Mein Vater ist im Gegensatz zu meiner Mutter ein »Stadtkind«
Meine Mutter Inbal ist in Ein Harod, einem malerischen Ort am Fuße des Berges Gilboa im Norden des Landes, groß geworden. Mein Vater Moshe stammt aus Ramat Gan. Er ist also im Gegensatz zu meiner Mutter ein »Stadtkind«. Meine Großeltern mütterlicherseits wurden in Palästina geboren, ihre Vorfahren kommen aus Deutschland und Polen.
Die Großeltern meines Vaters waren Ärzte und kamen ursprünglich aus Bayreuth. Es gibt da eine kuriose Geschichte in unserer Familie: Eines Tages kam der Onkel meines Vaters, da war er noch ein Kind, von der Schule nach Hause und erzählte: »Alle in der Schule tragen Braunhemden, ich will auch eins!« Spätestens ab da wussten meine Urgroßeltern, dass es Zeit war, das Land zu verlassen. 1934 wanderten sie von Magdeburg, wo sie damals lebten, nach Palästina aus.
Sie waren echte »Jeckes«, lebten in Ramat Gan und sprachen nur Deutsch. Folglich sprach meine Großmutter auch kein Hebräisch, als sie in die Schule kam. Die polnische Seite unserer Familie hingegen sprach Hebräisch. Durch meine Großeltern kannte ich in meiner Kindheit viele deutsche Kinderreime. Ich erinnere mich zum Beispiel an »Hoppe, hoppe Reiter«, an die Worte, an die Melodie.
Was lag näher, als mich in einem Kinderchor anzumelden?
Meine Mutter erzählt noch heute, wie oft ich als Kind gesungen habe, eigentlich immer, selbst wenn wir unterwegs waren: Immer habe ich etwas gesummt. Was lag da näher, als mich in einem Kinderchor anzumelden? Im Alter von sieben Jahren kam ich in Tel Aviv zum Conservatory Bat Cole, dort blieb ich bis zum 16. Lebensjahr.
Ich entwickelte die fixe Idee, Schauspielerin zu werden.
Wenn ich mich selbst beschreiben müsste, würde ich sagen, dass ich ein sehr schüchternes Mädchen war. Das Singen war meine Art, mich auszudrücken. Vor Auftritten hatte ich extremes Lampenfieber, gleichzeitig habe ich es auch genossen. Ein Widerspruch, aber so war es.
Wenn man in die Pubertät kommt, gerät die Welt aus den Fugen, bei mir war es anders. Ich war 13 und mochte die Struktur, die Regelmäßigkeit der Chorproben, das gab mir Halt. Und plötzlich wollte ich auf die Bühne. Ich entwickelte die fixe Idee, Schauspielerin zu werden. Ich bat meine Eltern, auf eine Kunstschule gehen zu dürfen. So kam ich an die Tel-Aviv High School, und da ging es los mit Schauspielunterricht. Damals war mir das ein Bedürfnis. Schon immer hatte ich viel Fantasie, irgendwie konnte ich mir für mein Leben alles Mögliche vorstellen.
Natürlich hatte ich Vorbilder. Immer gab es jemanden. Als junger Mensch sucht man nach positiven Eigenschaften bei anderen Menschen. Man schaut, was einen motiviert. Noch etwas war mir wichtig während meines Erwachsenwerdens: Filme. In unserer Nachbarschaft gab es eine Videothek, dort habe ich mir zweimal pro Woche Filme ausgeliehen.
Unser Haus in Tel Aviv war ein offenes Haus
Unser Haus in Tel Aviv war ein offenes Haus, meine Mutter war eine großartige Gastgeberin. Ich wuchs umgeben von Kunst auf, von interessanten und kreativen Menschen, die zum Freundeskreis der Familie gehörten. Meine Eltern kommen beide nicht aus der Kreativbranche. Meine Mutter war Stadtplanerin in der Hightech-Branche, mein Vater war über viele Jahre in der Armee beschäftigt, ursprünglich ist er Mathematiker und Ökonom.
Der Vater meiner Mutter, mein Saba Schlomo, kam aus einer großbürgerlichen Familie. Er mochte Beethoven, und wir standen uns sehr nah. Er war ein ausgezeichneter Tänzer und liebte den großen Auftritt, immer war er gut angezogen. Vielleicht kam daher mein Drang, Theater zu spielen.
Im Alter von 15, 16 Jahren war ich in meiner Theaterklasse angekommen, aber immer noch sehr schüchtern. Das hatte zur Folge, dass ich zu leise sprach. Eines Tages gab es im Theaterworkshop eine Übung, die wegweisend für mich war: Alle mussten in einer Reihe stehen, dann sollte jeweils einer hervortreten, um etwas vorzuführen, was die anderen überzeugen sollte. Ich hatte keinen Plan und machte irgendetwas, in der Hoffnung, die anderen von meinem Talent zu überzeugen. Doch egal, was ich tat, ich mühte mich nur ab. Es ergab keinen Sinn, da waren so viele andere talentierte Leute. Schließlich begann ich zu singen, eine Initialzündung.
Singen ist ein natürlicher Zustand für mich
Wenn ich singe, überwinde ich meine Schüchternheit, Singen ist ein natürlicher Zustand für mich. Das führte zur nächsten Verwirrung: Wenn nicht Schauspielerei und auch nicht nur Gesang, dann vielleicht beides? Aber wie, vielleicht zur Oper? Als ich 15 war, begann ich mit privatem Gesangsunterricht und wechselte von der Theater- zur Gesangsklasse. Tief in mir habe ich immer gewusst, da ist etwas, nur was, wusste ich noch nicht. Mir war auch früh klar, dass ich anders war als viele in meinem Alter.
Nebenbei spielte ich Klavier, doch nach der Highschool ging es erst einmal zur Armee. Dort habe ich mich um ein Künstlerstipendium bemüht, aber während des Vorspielens hatte ich einen Blackout. Ab dem zweiten Jahr habe ich dafür gekämpft, zumindest für anderthalb Tage pro Woche zur Uni zu gehen. Viele reisen nach der Armeezeit erst einmal durch die Welt, bei mir war das anders, ich war total fokussiert. Die Uni in Tel Aviv verließ ich nach rund vier Jahren mit einem Master-Abschluss.
Dann kam ein Anruf von einer Agentin aus Europa, sie hatte mich auf YouTube entdeckt. Durch sie kam ich 2011 nach Berlin, dort blieb ich ein halbes Jahr. Anschließend ging es nach Spanien, nach Valencia, danach für ein Jahr wieder nach Berlin, dann Düsseldorf und schließlich für vier Jahre nach Oldenburg, wo ich ein festes Engagement erhielt.
Wir wurden mit Respekt behandelt, wir waren so etwas wie kleine Lokalgrößen.
Dort kamen die ersten großen Rollen: die Dejaneira von Händel, ich sang Barock-Stücke, Rossini, die Titelrolle in Pinocchio, eine tolle Zeit! Die Oldenburger lieben die Oper, die Musik überhaupt. Wir wurden mit Respekt behandelt, wir waren so etwas wie kleine Lokalgrößen.
An der Uni in Tel Aviv hatte ich Unterricht bei Tamara Rachum. Sie hatte mir damals das deutsche Liedgut ans Herz gelegt. Das war von Anfang an mein Ding. Neben ihr waren Jonathan Zak, Friedl Teller-Blum und Mira Zakai sehr wichtig für mich. Doch etwas zu singen, ohne die Sprache zu verstehen, ist anders, als wenn man die Sprache beherrscht. Als ich nach Berlin kam, ging ich sofort zum Goethe-Institut und begann, Deutsch zu lernen. Weiter ging es mit Musik von Schubert, Schumann, Mahler. Und immer wieder war da von der »Sehnsucht« die Rede. Plötzlich vermochte ich, mich auszudrücken. Die Musik war meine Therapie.
Die Zeit ohne meine Familie und Freunde war schwer
Das erste Jahr in Europa ohne meine Familie und Freunde war schwer. Aber ich hatte meine Bestimmung gefunden. Und ich liebte mein neues Nomadendasein, ich blühte auf. So viele neue Eindrücke, neue Menschen, Orte, Erfahrungen. Ich wollte mich selbst weiterbringen: Raus aus der Komfortzone! Manchmal hatte ich Heimweh. Nach meinen Eltern, nach vertrauten Gesichtern, nach dem Strand. Aber ist es nicht toll, einen Beruf auszuüben, den man liebt?
Nachdem ich Oldenburg verlassen hatte, kehrte ich wieder nach Berlin zurück, in meine neue Heimat. Seither arbeite ich als freiberufliche Sängerin. Meine Engagements bekomme ich durch eine Agentur und eigene Kontakte. Musikalisch lasse ich mich nicht in eine Schublade stecken, ich singe verschiedene Stilrichtungen, manchmal auch Jazz. Meine Lieblingsrollen sind die mit großen Emotionen. Wenn ich auf die Bühne gehe, habe ich immer noch Lampenfieber. Es ist der Respekt davor, präsent zu sein.
Die Zusammenarbeit mit anderen Musikern, die Verbindung mit anderen Menschen – vor wie hinter der Bühne – hat etwas Magisches. Wenn ich einen Wunsch frei hätte, würde ich mir wünschen, etwas dazu beizutragen, dass alle Menschen in Frieden leben können. Es ist wichtig, seine Stimme zu erheben, für Menschen, die sprachlos sind.
Aufgezeichnet von Alicia Rust