Porträt der Woche

»Mein Beruf ist die Verstellung«

Elie Levy steht seit mehr als 30 Jahren als Pantomime auf der Bühne

von Jo Berlien  27.03.2012 07:09 Uhr

»Mit diesem Gesicht, sage ich kokett, bin ich immer der Lügner«: Elie Levy (60) Foto: Sabina Paries / Berlien Paries

Elie Levy steht seit mehr als 30 Jahren als Pantomime auf der Bühne

von Jo Berlien  27.03.2012 07:09 Uhr

Ich bin Frühaufsteher. Ob Sie es mir glauben oder nicht – es ist mir jeden Morgen ein Vergnügen, meiner Frau und meinen Kindern Frühstück zu machen. Und belegte Brote für die Schule. Um acht Uhr gehe ich aus dem Haus und zum Sport, ins Fitnessstudio. Ich liebe das. Da bin ich inkognito. Dort habe ich mich einmal mit einer Frau über mich unterhalten. Die Frau sagte: »Ach, Sie sind beim Theater? Hier im Fitnessstudio ist noch einer, der ist Pantomime. Elie Levy heißt er, kennen Sie den?« – Das war eine interessante Erfahrung. Aber so interessant auch wieder nicht, denn sie kannte mich ja nicht so gut und konnte mir deshalb nicht viel über mich erzählen.

Was tut der Pantomime alleine zu Hause? – Er macht Bürokram, er telefoniert. Im Ernst: Ich habe mehr als 30 Jahre Bühnenerfahrung. Da steht man nicht mehr jeden Tag in der Stube und übt und denkt sich neue Posen aus. Ich verstehe mein Handwerk. Ich bin gut darin, denn ich liebe den Auftritt. Dabei ist es egal, ob ich vor der Kamera stehe, auf der Theaterbühne oder ob ich in der Schule hier in Hamburg-Eppendorf auftrete, vor der Klasse, in die mein Sohn geht.

Wie er es findet, einen Pantomimen zum Vater zu haben, weiß ich nicht. Wen das interessiert, der muss ihn fragen – und auch meine Tochter, denn sie ist der Clown in der Familie.

Geschwister Früher war ich immer der Clown unter meinen sieben Geschwistern. Ich bin in Jaffa geboren, als drittjüngstes Kind. Meine Eltern stammen aus Turkmenistan und Usbekistan. Sie sind durch Afghanistan und Persien geflohen und haben unterwegs alles verloren. Mein Vater hat sich in Teheran als Teppichhändler durchgeschlagen, bevor er 1949 mit seiner Frau nach Israel kam.

Ich bin das schwarze Schaf in der Familie. Alle meine Geschwister haben es zu irgendetwas gebracht. Sie sind Mathematiker, Anwalt, Bankkaufmann – nur Elie, um Gottes willen! Hat so einen komischen Beruf. Ist beim Theater! Auf dem Gymnasium gab es eine Theatergruppe. Aber Theater war nichts für mich. Also sollte ich eine Pantomime-Nummer machen. Nach zehn Minuten war klar: Das ist meine Rolle!

Marcel Marceau, der große Pantomime, löste in den 70ern in Israel einen Boom aus. Warum lieben die Israelis so sehr die Pantomime, warum gibt es so viele von uns in Israel? Darüber kann man viel psychologisieren. Ich sage nur: Es nistet hartnäckig ganz hinten im Kopf: Du bist Schauspieler, du bringst Menschen zum Lachen, du willst geliebt werden!

Ich habe 1973 in Israel mit Tanz und Theater begonnen und von 1975 bis 1978 in Paris bei Ella Jaroszewicz und Etienne Decoux, dem Vater der modernen Pantomime, studiert, dazu die Zirkusschule besucht. Die École Nationale de cirque gibt es schon lange nicht mehr. Kann man sich heute, in Zeiten von Wirtschafts-, Finanz- und Riesenkrise noch eine Zirkusschule denken? Aber die Pantomimen und Clowns sind noch da.

schwyzerdütsch Durch Zufall bin ich Ende der 70er-Jahre nach Deutschland gekommen: von Paris über Basel und Zürich nach Freiburg und weiter nach Sigmaringen. Wir waren eine bunte Truppe von Straßenkünstlern: ein Belgier, ein Mexikaner und ich, dazu eine schöne Blondine, die das Geld eingesammelt hat. Ich fand mich überall schnell zurecht und habe die Sprache angezogen wie eine Jacke. Ich stand in Zürich auf der Bühne, habe Schwyzerdütsch gesprochen – das Publikum war vielleicht platt. Heute lebe ich in Hamburg. Eine sehr schöne Stadt. Ich fühle mich wohl. Und wenn einer sagt: »Aber es ist hier so kalt«, dann sage ich: »Ganz Deutschland ist kalt, wovon redest du?«

Es gibt zwei Geschichten, die ich gern erzähle, wenn immer dieselben zwei Fragen gestellt werden: Wer ist Elie Levy? Und wer ist der Pantomime Elie Levy? Erste Geschichte: Wenn ich im Fitnessstudio mit Leuten ins Gespräch komme, sage ich: »Was glaubst du, was bin ich von Beruf: Französischlehrer, iranischer Teppichhändler, Künstler? Oder war ich bis vor einem Monat im Gefängnis?«

Zweite Geschichte: Nach einer Fernsehshow in Baden-Baden saßen wir Bühnenakteure zusammen an der Bar. Wir waren eine Gruppe von Solisten, und wir haben uns darüber unterhalten, was ein Solist nach der Show macht, um Mitternacht, randvoll mit Adrenalin, mit so viel überschüssiger Energie. Also erzählten die Kollegen der Reihe nach. Der Erste hat gekokst, der Zweite vergnügte sich mit Frauen, der Dritte verspielte seine Gage im Casino. Erwartungsvoll haben sie mich angeschaut. Ich habe mit den Schultern gezuckt. Ich war der Spießer in der Gruppe. Ich habe nicht einmal den Alkohol vertragen.

Was ich damit sagen will: Das wilde Künstlerleben ist auch nur ein Klischee. Ich brauche das nicht oder schon lange nicht mehr. Ich bin ein Familienmensch. Wenn ich einen Auftritt in Winterthur habe, setze ich mich noch in der Nacht ins Auto und fahre bis Würzburg. Dann übernimmt mein Techniker das Steuer. Wir fahren schnurstracks durch bis Hamburg. Zu Hause nehme ich meine Sportsachen und gehe ins Fitnessstudio. Es ist Montagmorgen. Eine Bekannte, der ich Freitag von meinem Auftritt in der Schweiz erzählt hatte, sagt: »Du wolltest doch in der Schweiz sein.« Und ich antworte: »Ich war in der Schweiz.«

Ich mache meine Arbeit gern und nehme sie ernst. Und ich nehme mein Publikum ernst, ganz gleich, für wen ich spiele. Ich gebe Kurse in Körpersprache, es spielt keine Rolle, ob ich in Lübeck vor Wirtschaftsleuten unterrichte, bei der Feier zu 25 Jahre Kulturkreis Wildeshausen auftrete oder demnächst in Bayern auf Tournee gehe.

Schabbat Mein Beruf ist die Verstellung Mit diesem Gesicht, sage ich kokett, bin ich immer der Lügner. Kann ein Pantomime ein guter Jude sein? Ich weiß nicht, was der Rabbi darüber denkt. Ich versuche, ein guter Jude zu sein. Jeden Freitagabend haben wir Gäste, mein Sohn liest die Schabbatbegrüßung in fließendem Hebräisch. Wir kochen koscher und gehen ab und zu in die Synagoge. Wir sprechen zu Hause Deutsch, Hebräisch und ein bisschen Englisch. Meine Frau Marie ist zum Judentum konvertiert, der Kinder wegen.

Als ich Marie kennenlernte, sagte sie: »Ich habe einen jüdischen Hintergrund.« Damals habe ich das ignoriert. Denn so etwas sagt jeder Zweite zu mir. Die Leute wollen nett sein und erzählen mir solche Geschichten. Aber Marie ist zum Judentum konvertiert, nachdem – und das ist die Pointe – ihr jüdischer Großvater vor 90 Jahren zum Christentum konvertiert ist. Er war Musiker und wollte Mitglied im Polizeiorchester werden. Die nahmen aber keine Juden auf. Also ist er übergetreten. Die Großeltern lebten hier in Hamburg, Maries Großmutter hat als Kind im Hof gegenüber gespielt.

Ich habe vorhin von meinen Testläufen im Fitnessstudio erzählt. Wenn ich die Passanten frage, wofür sie mich halten: für einen Verbrecher oder einen iranischen Teppichhändler, für einen Künstler oder einen Französischlehrer, tippen die meisten am Ende auf den Künstler. Wir Schauspieler brauchen unser Publikum. Wir spielen den Leuten etwas vor, sogar Montagmorgen beim Sport.

Aufgezeichnet von Jo Berlien

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