Limmud

Lernen in Kreuzberg

Dürfen gläubige Juden und Jüdinnen in das Weltall fliegen? Kein Problem, sagt die in der Raumfahrtindustrie tätige Elena Eyngorn. Laut Talmud können die Sterne nicht über das jüdische Volk herrschen, denn das stehe über den Sternen.

Diese Frage wurde ganz irdisch beantwortet, nämlich am vergangenen Sonntag beim Limmud-Tag in Kreuzberg. Nach zwei Jahren Pandemie konnten sich die Limmudniks endlich wieder persönlich sehen, vernetzen, austauschen und eben den Ausführungen von Eyngorn zu Geschichte und Chancen der Raumfahrt lauschen. Und obendrein wurde noch der Dachverband »Limmud Europe« gegründet.

neuanfang Es sei ein Neuanfang, betont Frauke Ohnholz, die Vorsitzende von Limmud Deutschland. Symbolisch für den Reorganisationsprozess, der schon vor Corona begonnen hatte, steht der Eruv Hub, ein Co-Working-Space am Paul-Lincke-Ufer. Der offene Raum soll eine transparente Lernerfahrung ermöglichen.

Der Tag beginnt mit der Vorführung des Films This was Home der israelischen Regisseurin Dana Levy. Darin zeigt Levy, wie drei Generationen ihrer Familie, ihr Großvater, ihr Vater und sie selbst, in ihre Geburtsstädte in Polen, Ägypten und den USA zurückkehren, die sie als Kinder verlassen mussten. Danach diskutieren die Limmud-Teilnehmer mit der anwesenden Regisseurin über die Bedeutung von jüdischer Heimat und Identität.

Im Anschluss können sich die rund 100 Limmudniks zwischen den vielen Angeboten entscheiden. So gibt es Workshops zum Thema »Roma und Juden – eine Liebesgeschichte?«, »Digitalisierung der deutschen Mischna« oder ein Bier-Tasting, das die Teilnehmer über das koschere deutsche Reinheitsgebot aufklärte.

Workshops wurden in Englisch, Russisch oder Deutsch abgehalten.

Einen der Workshops leitet Tetyana Borodina. Sie ist eine von vielen Ukrainerinnen und Ukrainern an diesem Limmud-Tag. In den letzten Märztagen nach Deutschland gekommen, spricht sie jetzt als Limmudnika über die Lehren des Weisen Hillel.

Zusammen mit den Teilnehmern versucht sie zu ergründen, inwiefern Hillels Fragen, wer man sei und für wen man sei, auch heute noch relevant sind. »Wir haben versucht, in uns hineinzuschauen«, erklärt sie. »Wer sind wir? Und was können wir für andere tun? Wann, wenn nicht jetzt, sollten wir uns diesen Fragen stellen?« Zwangsläufig musste sie sich damit in den vergangenen Monaten auseinandersetzen. Als Lehrerin an einer jüdischen Privatschule in Charkiw unterrichtete sie die Kinder auf Zoom weiter, als die Bomben fielen. Innere Stärke zu finden und diese weiterzugeben, das war ihre Aufgabe, erzählt sie. Den Workshop gibt Borodino auf Russisch.

Für die zeremonielle Gründung sind außerdem zahlreiche Limmudniks aus ganz Europa angereist. Viele von ihnen organisieren bei dieser Gelegenheit selbst Workshops, die in Englisch, Russisch oder Deutsch abgehalten werden. Vier Dolmetscherinnen sorgen zwischen den Teilnehmern für die Verständigung.

Der Geräuschpegel im Eruv Hub steigt. In allen Winkeln des Co-Working-Space sprechen und diskutieren die Limmudniks miteinander.

Roma Großes Interesse besteht an dem Vortrag des ungarischen Aktivisten Tomi Buchler. Er berichtet von den Bemühungen, die jüdische und die Roma-Community in Ungarn zu vernetzen. Es sei nur sinnvoll, dass zwei Minderheiten, die über die Jahrhunderte ein ähnliches Schicksal teilten, sich über Projekte, Events und Ini­tiativen besser kennenlernen. »Egal, wie sehr wir Vorurteile alleine bekämpfen, effektiv können wir das nur gemeinsam tun«, fasst Buchler zusammen.

»Die Pandemie hat uns gezeigt, dass ein offenes Europa nicht selbstverständlich ist.«

‌Judith Orland

Am späten Nachmittag enden die letzten Workshops, und die Limmudniks versammeln sich zu einem Highlight des Tages. Der Pianist Itay Dvori gibt ein Comic-Klavierkonzert unter dem Motto »Vor allem eins: Dir selbst sei treu«. Zu den Klängen von Felix Mendelssohn Bartholdys Musik erleben die Zuschauer die Geschichten von fünf deutsch-jüdischen Frauen als audiovisuelles Ereignis.

Die Werdegänge von unter anderem der Philosophin Hannah Arendt, der Mathematikerin Emmy Noether und der Schauspielerin Hanna Maron werden als Comics an eine große Leinwand projiziert. Dieser feministische Programmpunkt des Limmud-Tags spiegelt sich in der überwiegend weiblichen Teilnehmerschaft wider.

Europa Zum Ende wird es dann feierlich: Denn die Gründung von »Limmud Europe«, die seit Jahren von engagierten Limmudniks aus ganz Europa vorangetrieben wurde, steht auf dem Plan. Mit der Unterzeichnung der Gründungscharta wird die Dachorganisation, die Limmud-Gemeinschaften in ganz Europa fördern und vernetzen soll, ins Leben gerufen.

Judith Orland ist eine der Initiatoren. Für sie ist die Gründung ein Meilenstein in der Geschichte von Limmud. »Die Pandemie hat uns gezeigt, dass ein offenes Europa nicht selbstverständlich ist.« Umso mehr freue sie sich, dass dieser Raum, mit Andersdenkenden in Kontakt zu kommen, sich weiterentwickelt.

Schon nächstes Jahr ist ein mehrere Tage dauerndes Festival in Deutschland geplant. Bis dahin müssen die Limmudniks ihren Lernhunger anders stillen – und können vielleicht über ganz Irdisches oder auch Außerirdisches nachdenken.

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024

Berlin

Zeichen der Solidarität

Jüdische Gemeinde zu Berlin ist Gastgeber für eine Gruppe israelischer Kinder

 15.04.2024

Mannheim

Polizei sucht Zeugen für Hakenkreuz an Jüdischer Friedhofsmauer

Politiker verurteilten die Schmiererei und sagten der Jüdischen Gemeinde ihre Solidarität zu

 15.04.2024