Gedenken

Leere Stühle, verwaiste Schuhe

Als der junge Mann Rotwein in das Glas einschenkt, verliert er die Fassung, seine Hände zittern, und er fängt an zu weinen. Eine Frau nimmt ihn in die Arme und hält ihn fest. Kurz zuvor hatte er noch Challa auf den Teller von Elyia Cohen gelegt. Doch Elyia sitzt nicht an diesem Tisch. Er ist entführt durch die Terrororganisation Hamas. Er sieht die lange, feierlich gedeckte Tafel nicht. Weiß nicht, dass darauf Vasen mit bunten Blumen stehen. Elyia ist einer von insgesamt 239 entführten Menschen. Er ist 27 Jahre alt. An einem anderen Teil des Tisches stehen Nuckelflaschen und Kinderstühle, denn auch Babys und Kleinkinder sind unter den Geiseln.

220 Plätze blieben bei dieser Schabbatfeier in Berlin am Freitagabend leer – wie auch die Stühle bei etlichen Familien und Freunden in Israel unbesetzt blieben. Es war eine besondere Schabbatfeier, mit der auf die Schicksale der verschleppten Israelis aufmerksam gemacht werden sollte, die immer noch in den Händen der Terror­organisation Hamas sind.

FAMILIEN An den Stuhllehnen klebten die »Vermisst«–Plakate, auf denen ihre Gesichter abgebildet sind und ihre Namen stehen. »Wir können keinen normalen Schabbat mehr feiern«, sagte Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. »Wir sind solidarisch mit den Familien in Israel, bei denen nun Angehörige fehlen.« Kultursenator Joe Chialo (CDU) betonte in seiner Rede, dass man sich an diesem Freitag in der Fasanenstraße aus »tiefer Sorge versammle, um ein Zeichen gegen Hass und Antisemitismus zu setzen«. Und: »Wir verurteilen die Täter der Hamas.« Er forderte eine sofortige Freilassung der Entführten und rief: »Bring them home!« Joffe und Chialo dankten auch der Berliner Polizei, die Tag und Nacht im Einsatz sei, um jüdisches Leben zu schützen.

Es dürfe nicht sein, dass Jüdinnen und Juden ihre Identität verstecken müssen, so der Kultursenator weiter. Niemand sollte in Berlin in Angst leben. Die Sicherheit jüdischer Einrichtungen müsse gewährleistet werden. Kritik an der israelischen Regierungspolitik sei zwar legitim, das Existenzrecht des Staates Israel sei jedoch nicht verhandelbar. »Wir müssen den Dialog fördern.« Der Kampf gegen Antisemitismus sei ein Marathon. »Wir dürfen keine Zeit verlieren.«

GESCHENK Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Die Linke) sagte, dass »wir bei den Menschen in Israel sind«. Sie erinnerte an den Historiker Alex Dancyg, der in der Jerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem gearbeitet hat und der ebenfalls von der Hamas entführt wurde. »Seine Enkel wissen noch nicht, dass ihr Opa entführt ist, denn ihre Eltern konnten es ihnen noch nicht mitteilen«, sagt Petra Pau.

Robert Klinke, Sonderbeauftragter des Auswärtigen Amts, sagte, dass jüdisches Leben ein Geschenk für Deutschland sei. »Wir sollten es schützen und bewahren.«

Daniela, eine jüdische Studentin, die zu den Hauptinitiatoren gehört, zündete die Schabbatkerzen an. »Es ist wohl die traurigste Schabbattafel überhaupt«, sagte Gemeinderabbiner Jonah Sievers. »Wir hoffen, dass in naher Zukunft alle wieder mit ihren Familien zusammensitzen können«, so der Rabbiner.

INSTALLATION Jedes Vermissten-Plakat war mit einem Paar Schuhe und einem roten, in der Luft schwebenden Luftballon ausgestattet. Etliche Personen blieben am Samstag auf dem Wittenbergplatz vor dem Kadewe stehen, um sich die Installation genauer anzuschauen. »Vor allem die verwaisten Kinderschuhe gehen mir nahe«, sagte eine Mutter, die mit ihren drei Kindern unterwegs war. Dass auch Babys entführt wurden, könne sie nicht begreifen. »Aber wenn ich genauer nachdenke, kann ich keine einzige Entführung begreifen.«

Seit acht Uhr waren Mitarbeiter der israelischen Botschaft, Bella Zchwiraschwili vom World Jewish Congress und einige Israelis, die alle zusammen diese Installation geplant und verwirklicht haben, dabei, die roten Luftballons aufzublasen. Am Abend davor hatten sie noch ein Problem zu lösen: Die Luftballons waren in Berlin-Steglitz bestellt worden, doch der Ballonladen teilte nach Rücksprache mit seinem Lieferdienst mit, dass dieser aus persönlichen Gründen den Auftrag nicht übernehmen möchte, da die Anfrage von der israelischen Botschaft erfolgte. So mussten am Freitag noch rasch Ballons organisiert werden.

SPENDEN Unter dem Titel »Sing 4 Israel« fand am Sonntag ein Solidaritätskonzert in einem Amano-Hotel statt. »Allen Juden und Freunden Israels geht es derzeit nicht gut«, sagt Mike Delberg, der das Konzert zusammen mit Lionel Reich, Anna Staroselski und Lars Umanski initiiert hat. Sie wollten einen Abend organisieren, der einem selbst »Kraft gibt« und an dem Spenden für den Kibbuz Kfar Aza gesammelt werden, damit er wieder aufgebaut werden kann. »Wir stehen beieinander – und das hat allen geholfen«, sagt Delberg. Musiker aus der jüdischen Community sangen zusammen mit dem Publikum Lieder.

Etwa 300 Interessierte kamen – und es wurden 50.000 Euro gesammelt, die über Keren Hayesod an den Kibbuz gehen. Ferner wurden Videos über das Festival und den Kibbuz gezeigt. Viele Kinder und Jugendliche aus dem Kibbuz waren in der Vergangenheit zu den Machanot der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) eingeladen gewesen. »Deshalb kennen wir viele von dort.« Gestärkt sei man nach Hause gegangen – bis dann die Nachrichten aus Dagestan eintrafen.

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