Pessach

Lang, länger, Seder

Foto: Getty Images, Montage

Es muss irgendwann spätabends gewesen sein, erinnert sich Tomer noch heute, dass ihm die Augen zufielen. Damals war er acht und einfach nur müde. Seit mehreren Stunden saßen seine Geschwister und er am Tisch, hörten die Pessachgeschichte. Es gab ein großes Essen, viele Verwandte waren gekommen. »Es war ein schönes Fest, wie jedes Pessachfest«, sagt der heute 50-Jährige, aber für ihn als Kind war es einfach nur zu lang. Deswegen habe er bei seinen Kindern immer darauf geachtet, den Seder so kindgerecht wie möglich zu halten – »einmal fingen wir sogar etwas früher an«, denn für den dreifachen Vater, der vor 20 Jahren aus Chicago nach Berlin kam, ist Pessach nach wie vor das schönste Fest.

Familie, Essen, Geschichte – Pessach vereint all das, und der Seder ist der schöne, aber eben lange Auftakt dazu. »Wenn wir die Tora richtig lesen, erfahren wir, dass die Bnei Israel nachts aufbrachen – bei Vollmond«, sagt Rabbiner Andrew Steiman, und »das finde ich, sollten wir im wahrsten Sinne des Wortes verinnerlichen, wenn wir bis tief in die Nacht hinein feiern«.

»Wenn dann endlich das Essen beginnt, wirkt es wie eine Befreiung«

»Erinnerung und verinnerlichen«, das hängt für den Frankfurter Rabbiner der Budge-Stiftung miteinander zusammen. Es war Steimans Bruder, der ihm bereits als Kind vermittelt habe, dass der Hunger an diesem Abend auch dazugehöre. »Zugegeben«, sagt Steiman, »von Kräutern und dem, was sonst auf dem Sederteller ist, wird man ja nicht satt. Wenn dann endlich das Essen beginnt, wirkt es wie eine Befreiung.«

Die Mischung macht’s: Geschichten, Fragen, Essen und ein guter Plausch.

Vor allem aber stehe eines im Mittelpunkt des Seders, den Kindern Selbstbewusstsein zu geben. »Kinder lernen: Wenn du die Fragen nicht stellst, dann können wir die Geschichte gar nicht erzählen. Es kommt jetzt auf dich an, und dann stellen sie die Fragen natürlich auch sich selbst. Ihre Aufmerksamkeit bleibt wach, solange sie den Afikoman im Sinn haben – das weiß ich auch aus eigener Erfahrung.«

Als Kind sei er sehr aufgeregt gewesen, vor der ganzen Tischgemeinschaft aufzustehen und die Fragen zu stellen, erzählt Steiman. »Zugleich hatte ich das Gefühl: Ohne mich geht es nicht, und das schaffte auch ein Gefühl für Verantwortung.«

Alle am Tisch so einbeziehen, dass sich niemand langweilt

Die Kunst besteht darin, alle am Tisch so einzubeziehen, dass sich niemand langweilt. Gregor Peskin, der heute Wirtschaftspsychologie studiert und Vorsitzender der Makkabi Deutschland Jugend ist, fand den Seder immer sehr lang – aber immer auch schön. »Die Zeit, bis wir dann endlich essen konnten, zog sich zwar immer ein wenig hin, doch die Lieder dazwischen haben es sehr schön und auch lustig gemacht. Dadurch, dass man mit der Familie jüdische Traditionen angstfrei ausleben konnte und in lockerer Atmosphäre den Abend verbracht hat, verging die Zeit wie im Flug«, sagt Peskin.

In diesem Jahr freue er sich besonders auf den Seder, weil die Familie wieder zusammenkomme: »Wir feiern im engsten Kreis der Familie, mit sechs oder sieben Leuten. Das konnten wir in den vergangenen Jahren nicht wirklich tun, da wir Geschwister an unterschiedliche Orte gezogen sind. Aber dieses Jahr bekommen wir es wieder hin.« Sogar der kleine Neffe, erzählt Peskin, sei mit dabei. Mit anderthalb Jahren ist er der Jüngste am Tisch.

Keren Lehmann, mehrfache Großmutter aus Frankfurt, ist stolz auf ihre beiden Enkel, die jetzt zehn und zwölf Jahre alt sind und die Seder der vergangenen Jahre bis zum Ende durchgehalten haben. Vier bis fünf Stunden – das klinge viel, aber den Kindern würden so viele Fragen gestellt: Sie seien dann natürlich auch herausgefordert, »fast ein bisschen wie in der Schule, und das macht ihnen einfach nur Spaß«, sagt Lehmann.

Eine Disco mit Wodka als Seder? Es ist doch ein Fest!

»Als Erwachsener«, resümiert sie, »musst du da einfach durch. Das ist ja klar«, sagt sie trocken und ergänzt: »Außerdem ist man ja fast immer in Gemeinschaft.« Immer wieder kämen Familienmitglieder dazu, oder man gehe irgendwohin zum Seder. »Es sind immer viele Leute, und da hat man sowieso immer einen Plausch. Die Vielfalt eines Pessach-Seders mit Geschichte, Tradition, Lernen, Gesang und Gebet macht es für Kinder wie Erwachsene am Ende nicht so schwer, den langen Abend zu genießen.« In diesem Jahr feiern alle zusammen bei ihrer Tochter.

Für Rabbiner Steiman ist es genau diese Mischung aus Geschichte, Gesellschaft und auch Essen, die Pessach so besonders macht. Als Pädagoge hat Steiman auch das richtige Wort dafür: Symposium. »Und was gehört zum Programm bei einem Symposium? Es ist ein gemeinsames Lernen nach Programm; daher auch Seder, also ›Ordnung‹. Man nimmt sich Zeit, ein Thema zu feiern. Dazu gehört gutes Essen und Trinken, gute Gäste, gute Gespräche – kurzum: Genuss bei einem guten Programm zum Thema. Es gibt gute Unterhaltung, und aus der guten Unterhaltung entsteht schließlich Haltung: jene Haltung, die unsere Identität formt.«

Feiern in großer Gesellschaft

Steiman feiert seit jeher immer in großer Gesellschaft. Nur einmal – während Corona – habe er das Fest der Freiheit zu Hause begangen. »Sonst feiere ich immer mit mindestens 200 Menschen. Seit meinem Studium habe ich das gemacht, und ich kenne es gar nicht anders.« Vor allem verbinde er mit Pessach nicht nur einige seiner schönsten, sondern auch einige seiner vielfältigsten Erinnerungen: »Ich habe wirklich viele bunte Erfahrungen, unter anderem als Militärseelsorger der U.S. Army im Einsatz.«

In Erinnerung bleibe ihm auch ein Seder in den 90er-Jahren mit Kontingentflüchtlingen. »Einmal, nachdem ich den Sederteller erklärt habe und kurz draußen war, habe ich nach der Rückkehr in den Raum erlebt, wie aus dem Seder eine Disco mit Wodka und Tanz wurde – immerhin auch mit Mazzen: ›Es ist doch ein Fest, wir wollen feiern, sagten sie; wir sind doch frei!‹« – »Auch wieder wahr«, dachte sich Steiman.

Bei Tomer geht es mittlerweile recht frei zu: »Wir sind in diesem Jahr bei meinen Eltern in der Nähe von Chicago, und dort ist es einfach ein tolles Familienfest – mit der Haggada, aber nicht der ganzen, einem schön gedeckten Tisch, mit Wein.« Wer nicht mit dabei sein könne, den hole man mit FaceTime dazu, und wer noch schlafe wegen der unterschiedlichen Zeitzone, »der wird aufgeweckt«, sagt der Biologe, der mittlerweile als Berater arbeitet, nicht ganz ernst gemeint. Wichtig sei, dass man am Abend zusammen sei, dass sich alle wohlfühlten, und dass niemand hinterher sage, wie öde der Abend gewesen sei. »Die Feste sollen ja ein gutes Gefühl hinterlassen.«

»Jedes jüdische Fest hat einen Geschmack.«

Rabbiner Andrew Steiman

Dazu zählt, wie überall, auch das Essen. Ein Seder bietet ja viel mehr als nur Mazze. Andrew Steiman sagt: »Jedes jüdische Fest hat einen Geschmack.« Und das »Brot der Armut ist zugleich auch das Zeichen unserer Freiheit«. Mit dem Geschmack allerdings ist das so eine Sache: »Ehrlich gesagt, ich kann Mazze nicht ertragen, die schmeckt wie Pappe«, sagt der Rabbiner. Er esse sie aber trotzdem »mit einem gewissen Genuss«.

Gregor Peskin freut sich auf »Mazze mit Frischkäse und Gurke. Das ist für mich der Klassiker«. In den vergangenen Jahren habe der Studierende angefangen, verschiedene Rezepte auszuprobieren und die »Vielfältigkeit, die Pessach mit sich bringt, auszutesten«. In der Pessachwoche gibt es »ganz viel Kartoffeln und Fleisch. Das kann ich danach erst einmal drei Wochen nicht mehr sehen, aber in dieser Woche geht das«.

Und wenn dann alles erzählt wurde, wenn alle Teller leer sind, wenn die vier Gläser Wein oder Traubensaft schon fast getrunken sind, dann kommt – zumindest für die Kinder – das (vielleicht) Beste vom Fest der Freiheit: der Afikoman. Und dass dies Mazze sein kann, aber nicht muss, das wissen schon die Kleinsten.

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