Jüdisches Museum

Innenansichten für draußen

Die Theater sind geschlossen, die Museen ebenso, es gibt keine Konzerte, und auch in den Lichtspielhäusern bleibt das Licht aus. Inmitten dieser pandemiebedingten Kulturwüste ist in der vergangenen Woche an fünf Abenden eine kleine kulturelle Oase an der Außenwand des Jüdischen Museums Berlin (und zeitgleich auch am Kunstmuseum in Bonn) sichtbar geworden.

Vor dem Libeskind-Bau steht – im gebotenen Abstand zueinander – eine ständig wechselnde Schar an Zuschauern und verfolgt an der Fassade ein immer wiederkehrendes, sieben Minuten währendes Video eines außergewöhnlichen Tanztheater-Spektakels. Der Titel »Outside« beschreibt eigentlich genau das Gegenteil dessen, was zu sehen ist, nämlich die durch den Lockdown bedingte Isolation mit allen mentalen wie körperlichen Folgen für die Isolierten.

Die Choreografie setzte dabei einen Text des israelischen Schriftstellers Etgar Keret um, der vor allem mit seinen Kurzgeschichten Weltruhm erlangte. Dieser Text entstand während des ersten Lockdowns in Israel und wurde in der von der »New York Times« herausgegebenen Anthologie The Decameron Project veröffentlicht.

PARADOX Der erste Satz dieser Short Story, wie er auch in dem Tanzvideo eingesprochen wird, beschreibt die Grundsituation der Handlung: »Drei Tage nach Aufhebung der Ausgangssperre war klar, dass niemand plante, das Haus zu verlassen.« Also, die Pandemie ist vorbei, aber die seit 120 Tagen eingeschlossenen Menschen haben den Bezug zum Leben draußen verloren, sie erinnern sich nicht mehr an ihre beruflichen Tätigkeiten und müssen schließlich von Soldaten gezwungen werden, die häusliche Sicherheit zu verlassen.

Die Choreografin Inbal Pinto aus Tel Aviv hat in einer israelisch-japanischen Koproduktion mit der israelischen Tänzerin Moran Muller und dem japanischen Schauspieler Mirai Moriyama, der hier auch als Erzähler fungiert, eine expressive Umsetzung von Etgar Kerets Text erarbeitet.

Die Frau bewegt sich am Boden, auf dem Tisch und im Raum wie hospitalisiert in eckigen Bewegungen, geht völlig unsinnigen Tätigkeiten nach, während aus dem Fernseher ein Sprecher das Ende der staatlich verordneten Isolation verkündet. Die Frau aber findet den Weg in die Freiheit nicht, innere Zwänge halten sie zurück, obgleich der Mann im Fernsehen polizeiliche und militärische Zwangsmaßnahmen androht. Am Ende aber ist auch er in seinem Kasten gefangen. Er erlebt das Paradox, dass seine räumliche Situation sich in einem krassen Widerspruch zur verlesenen Nachricht befindet.

AUSBLICK Die Konklusion des Ganzen ist ein wenig optimistischer Ausblick, wie er sich im letzten Satz von Etgar Kerets Text findet: »Es ist wie Fahrradfahren: Der Körper erinnert sich an alles, und das Herz, das erweicht ist, während du allein warst, wird in kürzester Zeit wieder verhärten.«

Bereits am Abend vor den Fassaden-Premieren in Berlin und Bonn war die Performance auf einem YouTube-Kanal zu sehen, der mit technischer Unterstützung der Deutsch-Israelischen Gesellschaft in Bonn eingerichtet worden war. Moderiert von der Publizistin Anita Haviv-Horiner, sprachen die Macher der Produktion über ihre Arbeit.

»Die Lebensnarrative verändern sich; man lernt eine Menge über sich selbst.«

Etgar Keret

Etgar Keret versteht demnach seinen Text als eine Allegorie des Begriffs der Isolation. Die Lebensnarrative würden sich verändern, erklärt er, und man lerne eine Menge über sich selbst. Für ihre Arbeit, so erläuterte Inbal Pinto, habe die Kunst darin bestanden, den Text, der immerhin Bestandteil der Inszenierung sei, in entsprechende Bewegungen umzusetzen.

Die ersten Proben hierfür hätten zunächst bei ihr zu Hause in der Küche stattgefunden. Ein idealer Ort sei das gewesen, zwangen doch der kleine, sehr begrenzte Raum und die Performance ohne Publikum zu komplett neuen Formen der Choreografie. Und Etgar Keret beschreibt die Transformation eines literarischen Textes in ein anderes Medium als eine für ihn unerwartet neue Erfahrung.

FOKUS Auf die Frage der Moderatorin, worin für sie der Unterschied zwischen einer reinen Bühnenarbeit und dieser Video-Choreografie bestanden habe, antwortete Inbal Pinto erwartungsgemäß mit den verschiedenen Möglichkeiten der Kameraeinstellung.

Mit einer eigenen Kamera habe sie sich auf den Proben die verschiedenen Möglichkeiten von der Totalen bis zum Close-up, vom harten Schnitt bis zum Zoom verdeutlicht. Bei der Aufzeichnung selbst stand ihr dann allerdings kein Geringerer als der israelische Camera-Shootingstar Ziv Berkovich zur Verfügung.

Schließlich wurden per Zoom die beiden Museumsdirektoren Hetty Berg in Berlin und Stephan Berg in Bonn zugeschaltet. Die Chefin des Jüdischen Museums Berlin betonte, dass diese Kunstperformance an jedem Platz der Welt verstanden werden könne. Egal, in welcher Sprache und egal, in welcher Kultur.

DAMOKLESSCHWERT Fast möchte man hinzufügen, dass von der Pandemie und ihren Folgen ja schließlich alle gleichermaßen betroffen seien. Aber Hetty Berg spricht auch von einem anderen Aspekt, dem in der Zukunft Bedeutung zukomme, Erinnerungen an Obdachlose etwa dürften nicht wieder empathielos versanden. Dagegen aber steht wie ein Damoklesschwert jener pessimistische Satz am Ende von Etgar Kerets Text.

Der Bonner Museumsmacher Stephan Berg sieht im Coronavirus neue Herausforderungen an die Museen und stellt die Frage: »Wie kann Kommunikation auf Dauer funktionieren, wenn sie überwiegend elektronisch vonstattengeht?«

Die Digitalisierung ersetzt nicht die unmittelbare Erfahrung von Kunst.

Was die Digitalisierung nämlich nicht ersetzen könne, sei die unmittelbare Erfahrung von Kunst. Und man könne auch in anderer Hinsicht nach der Pandemie nicht so weitermachen, wie die Museen es bislang gewohnt waren. Der globale Kunst-Tourismus dürfe in der alten Form nicht fortgeführt werden. Damit ist gemeint, dass man bislang Kunstwerke zu hohen Versicherungssummen über den gesamten Globus hin- und herfliegt.

Die Museen müssten sich wieder auf das konzentrieren, was für sie essenziell ist. Vor allem müssen sie sich auch wieder auf lokale Kooperationen fokussieren. Insofern habe das Eingeschlossensein, dieses »Lock-in«, auch einen positiven Effekt auf unser aller Zukunft.

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