Porträt der Woche

Immer sehr beschäftigt

»Jüdische Werte helfen, ein besserer Mensch zu werden«: Gregor Peskin (17) Foto: Rita Eggstein

Porträt der Woche

Immer sehr beschäftigt

Gregor Peskin ist Abiturient in Freiburg, treibt Sport und engagiert sich als Madrich

von Anja Bochtler  21.11.2021 00:09 Uhr

Dass meine Großeltern als Kinder die Leningrader Blockade überlebt haben, weiß ich schon lange. Aber erst in den letzten ein bis zwei Jahren haben sie mir mehr davon erzählt. Es ist nie einfach, über Traumatisierungen zu sprechen. Doch es ist so wichtig. Diese Erfahrungen müssen weitergegeben werden. Die Geschichte meiner Großeltern beeindruckt mich sehr.

In meinem Leben spielt es eine große Rolle, dass ich jüdisch bin. Mit vier Jahren kam ich in die Kindergruppe der Israelitischen Gemeinde in Freiburg. Inzwischen leite ich in der Nachbargemeinde Emmendingen selbst eine Gruppe und habe im Sommer meine Ausbildung zum Madrich bei der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) beendet. Auch sonst bin ich immer sehr beschäftigt. Im Frühling mache ich mein Abi – und ich bin Flossenschwimmer und trainiere täglich.

schuljahr Zu Hause bin ich selten. Ich habe einfach zu viel zu tun. In diesem Schuljahr habe ich 32 Stunden Unterricht pro Woche, dazu kommt die Vorbereitung fürs Abi. Dienstags und freitags habe ich zwischendrin Freistunden, da gehe ich zum Krafttraining. Auch an den Sonntagen trainiere ich morgens.

Montags, mittwochs und donnerstags bin ich abends beim Flossenschwimmen, ebenso am Samstagvormittag. Schwimmen fand ich immer gut. Schon als kleines Kind bin ich mit meinem Vater ins Schwimmbad gegangen. Mit sechs Jahren habe ich einen Schwimmkurs gemacht, danach habe ich im Verein weitergemacht.

Meine Eltern wurden vor allem durch meine Geschwister und mich jüdisch geprägt.

Weil mein vier Jahre älterer Bruder Flossenschwimmer wurde, habe ich zusätzlich auch noch damit angefangen. Mit zehn Jahren habe ich mich dann ganz darauf konzentriert. Das Flossenschwimmen fand ich sofort gut. Durch die Flosse an meinen Füßen kann ich mich viel schneller fortbewegen als beim normalen Schwimmen. So ist es möglich, auch weitere Strecken zu tauchen und immer in kurzer Zeit voranzukommen. Normalerweise bin ich zehn bis zwölf Mal im Jahr bundesweit oder international auf Wettkämpfen unterwegs, aber durch Corona war das in letzter Zeit sehr eingeschränkt. Bei uns Flossenschwimmern geht es immer um Schnelligkeit.

FAMILIE Als ich im August 2004 in Freiburg geboren wurde, waren meine Eltern schon einige Jahre da. Meine Mutter hat Russland mit ihrer Mutter und meiner 13 Jahre älteren Halbschwester 1998 verlassen, mein Vater folgte ihnen im Jahr 2000. Dazwischen hatten meine Eltern 1999 in St. Petersburg geheiratet. Der Vater meiner Mutter war damals schon tot.

Die Eltern meines Vaters zogen 2008 ebenfalls nach Freiburg. Mein Vater hat in St. Petersburg im IT-Bereich gearbeitet, das macht er auch jetzt wieder. Meine Mutter hatte früher Wirtschaftswissenschaften studiert, später hat sie noch eine Ausbildung gemacht und arbeitet inzwischen in einem Labor für Mikrobiologie.

Meine Geschwister und ich sind zweisprachig aufgewachsen. Zu Hause sprechen wir Russisch, mit unseren Großeltern sowieso. Früher habe ich auch mit meinem Bruder Russisch gesprochen, doch irgendwann sind wir auf Deutsch umgestiegen.

essen Auch die russische Kultur spielt bei uns immer eine Rolle. Zum Beispiel beim Essen: Zum Frühstück gibt es Haferbrei, und sonst essen wir viel Buchweizen und natürlich Borschtsch und überhaupt oft Rote Bete. Dann sind da die russischen Filme. Mit den älteren habe ich Probleme, denn um die verstehen zu können, muss man in der Sowjetunion gelebt haben. Auch Musik ist sehr wichtig, mein Bruder studiert inzwischen Musikwissenschaften in Mannheim. Alle bei uns spielen Instrumente. Bei mir war es bis vor einem Jahr das Klavier, aber im Moment fehlt mir die Zeit.

Dass so viele Menschen Essen wegwerfen, werde ich nie verstehen. Das ist nicht nötig, warum tun sie das? Ich bin anders erzogen worden. Meine Eltern haben nach dem Zerfall der Sowjetunion erlebt, dass Lebensmittel knapp waren. Meine Großeltern haben alle als Kinder die Leningrader Blockade überlebt. Der Vater meines Vaters ist 93 Jahre alt und kann am meisten darüber erzählen, weil er zum Beginn der Blockade schon 13 war. Er wurde damals nach einer schlimmen Zeit des Hungerns mit seiner Familie von seinem Onkel gerettet.

Der Onkel verschaffte allen die nötigen Papiere zur Evakuierung nach Zentralasien. Es war eine sehr gefährliche Route über gefrorene Gewässer, in denen viele einbrachen und ertranken. Es beeindruckt mich, wie sich mein Onkel für andere eingesetzt und sich dabei selbst in Gefahr begeben hat. Meine Großeltern haben mir vermittelt, wie wichtig Selbstlosigkeit, Ehrlichkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Toleranz sind.

RELIGION In der Sowjetunion war Religion nicht so wichtig. Meine Eltern wurden vor allem durch meine Geschwister und mich jüdisch geprägt. Sie haben sich mit uns zusammen entwickelt. Weil sie als jüdische Kontingentflüchtlinge nach Freiburg kamen, entstand dort Kontakt zur Israelitischen Gemeinde. Meine Schwester und mein Bruder sind früh in die Kindergruppe der Gemeinde gegangen.

Mit vier Jahren kam ich auch mit. Jeden Sonntag war ich dort, und über die Israelitische Religionsgemeinschaft Baden konnte ich zum jüdischen Religionsunterricht gehen. Jetzt in der Oberstufe sind wir dort nur noch zu dritt. Ich mag den Unterricht, er ist interessant.

Mittlerweile leite ich selbst eine Kindergruppe. In Freiburg gibt es zurzeit keine, deshalb habe ich eine Gruppe knapp 20 Kilometer entfernt bei der Gemeinde in Emmendingen. Es sind zufällig lauter Jungs, zwischen zehn und 14 Jahren. In die Synagoge gehe ich aber in Freiburg, vor allem an den Feiertagen und manchmal freitagabends.

Meine Großeltern haben mir vermittelt, wie wichtig Selbstlosigkeit, Ehrlichkeit, Durchsetzungsfähigkeit und Toleranz sind.

Alle in meinem Umfeld wissen, dass ich Jude bin. Bisher gab es deswegen keine echten Konflikte, von Freunden woanders habe ich aber anderes gehört. Da hatte ich in Freiburg bisher Glück. Vor vier Jahren war ich mit meiner Familie in Israel. Es war ein schönes Gefühl, zu wissen, dass wir hier sicher wären, falls die Lage sich wieder zuspitzen sollte. Und es ist ein tolles Land, mit Strand, Sonne und viel Kultur.

reisen Für meinen Seminarkurs fürs Abi habe ich den Nahostkonflikt als Thema gewählt. Das beschäftigt mich schon lange. Auf beiden Seiten gibt es Menschen, die extrem eingestellt sind, und andere, die Frieden wollen. Nach meinem Abi möchte ich ein Jahr Reisen und Arbeiten, vielleicht in den USA, wenn die Corona-Lage das zulässt. Danach will ich studieren, wahrscheinlich Wirtschaftspsychologie.

Mit acht Jahren war ich zum ersten Mal bei einem Ferienlager der ZWST dabei. Es kommen Kinder und Jugendliche aus ganz Deutschland. Die Jüngeren treffen sich in Rheinland-Pfalz, die Älteren in Italien. Es gibt viele Spiele und kreative Aktionen, eines der Ziele ist es aber auch, Werte des Judentums zu vermitteln.

Für mich sind das Werte, die helfen, ein besserer Mensch zu werden. Nächstenliebe oder Dankbarkeit gehören dazu. Wir können den Kindern spielerisch zeigen, was das bedeutet, oder dadurch, dass wir ihnen Geschichten aus der Tora vorlesen. Alle sollen dort Bezug zum Judentum bekommen.

verantwortung Mit zwölf Jahren wusste ich, dass ich ein Betreuer werden und die Ausbildung zum Madrich machen will. Ich habe die Betreuer immer bewundert. Es ist interessant, Verantwortung zu übernehmen. Vor eineinhalb Jahren haben die Seminare angefangen. Wegen Corona lief das meiste online. Wir haben viel gelernt über Spieldidaktik, Gruppendynamik, Pädagogik und jüdische Feiertage. Im Sommer haben wir in Vorbereitungsteams mit wechselnden Rollen praktisch ausprobiert, wie wir damit zurechtkommen, zwei Wochen lang 24 Stunden die Verantwortung für die Kinder zu haben.

Nun habe ich das offizielle Betreuer-Zertifikat. Bei uns ist die Atmosphäre gut und familiär. Wir haben untereinander in ganz Deutschland Kontakte, ich könnte in fast jeder Stadt bei Freunden übernachten.

Aufgezeichnet von Anja Bochtler

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