Trauer

»Ihre Stimme wird uns fehlen«

Esther Bejarano (1924–2021) Foto: imago images/Christian Ditsch

»Man darf nicht schweigen und nicht vergessen«, sagte die Holocaust-Überlebende Esther Bejarano einmal. Mit »Damals« meinte sie die Schoa und die NS-Diktatur.

Wer Esther Bejarano zuletzt traf, sah eine kleine Frau mit grauen Haaren, die zart und resolut zugleich wirkte. Sie hat Auschwitz überlebt, ihre Eltern und ihre Schwester wurden von den Nazis ermordet.

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

Nun ist sie im Alter von 96 Jahren gestorben, wie ihre Familie und das Auschwitz-Komitee der Bundesrepublik Deutschland am Samstagmorgen in Hamburg mitteilten. Bejarano sei nach kurzer schwerer Krankheit am frühen Samstagmorgen im Israelitischen Krankenhaus gestorben. Sie sei nicht allein gewesen, Familie und Freunde waren in den letzten Tagen bei ihr. »Sie hat nicht gelitten«, sagte Bejaranos enge Freundin Helga Obens vom Vorstand des Auschwitz-Komitees.

BIOGRAFIE Die geborene Esther Loewy aus Saarlouis, Tochter eines jüdischen Kantors, war 16 Jahre alt, als ihre geplante Ausreise nach Palästina scheiterte, und sie Zwangsarbeiterin in Brandenburg wurde. Zwei Jahre später, 1943, deportierten die Nazis sie nach Auschwitz. Sie überlebte als Akkordeonspielerin im »Mädchenorchester«, kam dann ins KZ Ravensbrück, konnte schließlich von einem Todesmarsch fliehen.

»Meine Schwester Ruth«, erinnerte sich Bejarano, »wollte damals in die Schweiz flüchten, wurde aber aus der Schweiz nach Deutschland zurückgeschickt – und damit in den Tod.«

»Es ist mir schwergefallen, nach Deutschland zurückzugehen. Deutschland war und ist das Land der Täter.«

Esther Bejarano

Nach Ende des Zweiten Weltkriegs lebte Esther Bejarano einige Jahre in Israel, heiratete, bekam zwei Kinder - bis es die Familie 1960 nach Deutschland zurückzog. Als ihrem Mann in Israel eine Gefängnisstrafe drohte, weil er nicht zum Militär wollte, wanderten sie aus. »Es ist mir schwergefallen, nach Deutschland zurückzugehen«, sagte sie. »Denn Deutschland war und ist das Land der Täter.« Von Hamburg aus mischte sie sich bis kurz vor ihrem Tod immer wieder ein in Debatten.

MUSIK Zusammen mit Tochter Edna und Sohn Joram gründete Esther Bejarano Anfang der 1980er-Jahre die Gruppe Coincidence mit Liedern aus dem Ghetto und jüdischen sowie antifaschistischen Liedern. Für ihr künstlerisches Engagement erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen. Sie ging in Schulen, trat mit der Band Microphone Mafia auf, die auf verschiedenen Sprachen rappt. Im Mai dieses Jahres hatte sie noch mit einer Lesung an die Bücherverbrennung der Nationalsozialisten in Hamburg erinnert. Damit das, was sie erleben musste, nie wieder passiert.

»Esther ist nicht nur Überlebende, sondern eine großartige Künstlerin«, sagte Bejaranos Musikerkollege Kutlu über sie.

Die Musiker Kutlu und Rossi von der Microphone Mafia hätten sie mittlerweile »eingeenkelt«, erklärt Bejarano einmal im Gespräch mit dieser Zeitung. »Wir sind Juden, Christen und Muslime – und wir harmonieren wunderbar zusammen.« Kutlu ergänzte: »Das hätte nie funktioniert, wenn wir nicht gelernt hätten, uns über die Musik hinaus zu verstehen.« Er fügte hinzu: »Esther ist nicht nur Überlebende, sondern eine großartige Künstlerin!«

Externer Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen externen Inhalt, der den Artikel anreichert. Wir benötigen Ihre Zustimmung, bevor Sie Inhalte von Sozialen Netzwerken ansehen und mit diesen interagieren können.

Mit dem Betätigen der Schaltfläche erklären Sie sich damit einverstanden, dass Ihnen Inhalte aus Sozialen Netzwerken angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittanbieter übermittelt werden. Dazu ist ggf. die Speicherung von Cookies auf Ihrem Gerät nötig. Mehr Informationen finden Sie hier.

2020 startete sie eine Petition, in der sie forderte, den 8. Mai als Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkrieges in Europa zum bundesweiten Feiertag zu machen. In einem Offenen Brief an Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte sie damals: Der 8. Mai, Tag der Kapitulation Hitler-Deutschlands und der Befreiung vom NS-Regime, muss ein Feiertag werden - allein, um ein Zeichen zu setzen.

UNERTRÄGLICH »Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren«, schrieb Bejarano als Vorsitzende des Auschwitz-Komitees in der Bundesrepublik Deutschland.

In Israel sang sie in einem kommunistischen Arbeiterchor. Sie verließ das Land 1960 auch deswegen, weil sie und ihr Mann mit dessen Politik nicht mehr einverstanden waren.

In dem Brief deutete sie auch an, was es heißt, Auschwitz überlebt zu haben: »Die Gerüche blieben, die Bilder, immer den Tod vor Augen, die Alpträume in den Nächten«. Dem stellte sie eine Kontinuität des Wegschauens gegenüber, »das große Schweigen nach 1945«.

Zwar habe sich im Lauf der Jahre eine Erinnerungskultur herausgebildet, aber auch Rechte und Neonazis hätten sich neu formiert. So weit, dass heute »Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als ›Vogelschiss in deutscher Geschichte‹ und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als ›Denkmal der Schande‹ sprechen«.

Was also könnte helfen? Vielleicht, wenn man endlich begreifen würde, »dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war«.

POLITISCH Esther Bejarano war schon lange ein politisch aktiver Mensch. In Israel sang sie in einem kommunistischen Arbeiterchor. Sie verließ das Land 1960 auch deswegen, weil sie und ihr Mann mit dessen Politik nicht mehr einverstanden waren.

Nicht unumstritten war ihr Engagement für die linksextremistische und vom Verfassungsschutz beobachtete Deutsche Kommunistische Partei (DKP), die sie sogar als Kandidatin in Hamburg aufstellen wollte. Kritik vonseiten der jüdischen Gemeinschaft gab es ebenfalls an ihrer Nähe zur israelfeindlichen BDS-Bewegung.

Wenn sie über die letzten Kriegstage sprach, erzählte sie von ihrer panischen Angst vor der Ostsee. Als die Alliierten immer näher rückten und die Befreiung schon in greifbarer Nähe war, zwangen die Nazis sie und weitere Häftlinge aus Ravensbrück in einen ihrer berüchtigten Todesmärsche. Wer nicht mehr gehen konnte und auf den Boden sackte, wurde erschossen. Es ging nach Norden, geradewegs auf die Ostsee zu, habe sie damals geglaubt. »Ich dachte, sie werden uns dort rein treiben und sterben lassen«, erinnerte sich Bejarano.

Bejarano besuchte seit mehr als 30 Jahren Schulen und führte Zeitzeugengespräche mit Jugendlichen.

Sie konnte sich von dem Todesmarsch retten, mit einigen Freundinnen gelang ihr in einem Waldstück die Flucht. Die Erinnerung an die Angst blieb. Und die kam zuletzt wieder hoch, wenn sie die Situation der Flüchtlinge auf dem Mittelmeer sah: »Das ist das erste, was ich denke, wenn ich in den Nachrichten ein Flüchtlingsboot sehe: ›Die wollen uns ertränken‹«, sagte sie vergangenes Jahr.

Die Künstlerin besuchte seit mehr als 30 Jahren Schulen und führte Zeitzeugengespräche mit Jugendlichen. Bejarano engagierte sich in der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten. 2012 erhielt sie das Große Bundesverdienstkreuz. Die Hamburgerin traf mit weiteren Holocaust-Überlebenden 2015 Papst Franziskus, der dem Auschwitz-Komitee für die Aufklärungsarbeit in Schulen dankte.

Bejaranos Familie und das Auschwitz-Komitee schrieben am Samstag, sie wollten Bejaranos Auftrag erfüllen: »Nie mehr schweigen, wenn Unrecht geschieht. Seid solidarisch! Helft einander! Achtet auf die Schwächsten! Bleibt mutig! Ich vertraue auf die Jugend, ich vertraue auf euch! Nie wieder Faschismus - nie wieder Krieg!« (mit ja und dpa)

Lesen Sie mehr in unserer nächsten Print-Ausgabe.

Pessach

Vertrauen bewahren

Das Fest des Auszugs aus Ägypten erinnert uns daran, ein Leben in Freiheit zu führen. Dies muss auch politisch unverhandelbare Realität sein

von Charlotte Knobloch  22.04.2024

Pessach

Das ist Juden in Deutschland dieses Jahr am wichtigsten

Wir haben uns in den Gemeinden umgehört

von Christine Schmitt, Katrin Richter  22.04.2024

Bayern

Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZ Flossenbürg vor 79 Jahren

Vier Schoa-Überlebende nahmen teil – zum ersten Mal war auch der Steinbruch für die Öffentlichkeit begehbar

 21.04.2024

DIG

Interesse an Israel

Lasse Schauder über gesellschaftliches Engagement, neue Mitglieder und die documenta 15

von Ralf Balke  21.04.2024

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024