Bildungsseminar

Ideen für die Zukunft

Junge Leute wollen sich nicht dauerhaft an Gemeinden binden, sondern flexibel bleiben und selbst entscheiden, wann sie welches Angebot annehmen. Ein Herausforderung für die jüdischen Gemeinden in Deutschland. Sie können nur existieren, wenn sie Mitglieder haben, auf die sie bauen können. Einen Ausweg aus dieser Gemengelage suchte vergangene Woche in Berlin das Seminar »Die Gemeinden sind wir. Jüdische Nachwuchsförderung heute«. Veranstalter war die Bildungsabteilung beim Zentralrat der Juden in Deutschland.

Rund 30 Vertreter aus Gemeinden und jüdischen Organisationen waren gekommen, um Ist-Zustand, Angebote und Zukunftsperspektiven miteinander zu besprechen. »Schauen Sie über den Tellerrand hinweg! Und vor allem: Bleiben Sie nicht im Beschwerdemanagement!«, forderte die Leiterin der Bildungsabteilung, Sabena Donath, die Teilnehmer zu Beginn auf. »Wir wollen, dass Sie am Ende des Seminars etwas Konkretes mit in Ihre Gemeinden nehmen.« Auf ihre Frage nach aktuellen Plänen für die Jugend kommen Antworten wie »Jugendgruppe aufbauen«, »Teilnahme an der Jewrovision«, die »Suche nach Räumlichkeiten«. Die Projekte – so signalisieren diese Reaktionen – sind von vielen Unwägbarkeiten abhängig.

Brüche Zudem trafen die Lebenswirklichkeiten von Gemeinden mit 70 und Organisationen mit mehreren Tausend Mitgliedern, regionale wie bundesweite Angebote aufeinander. Und sollten die Gemeinden ihre Aufgabe noch nicht genügend erkannt haben, erklärte ihnen die Soziologin Karen Körber, wie Jugendliche und junge Erwachsene heute »ticken«. »Mit Tanzgruppen und Theateraufführungen zu Purim locken Sie niemanden mehr hinterm Ofen hervor«, kritiserte sie genau diese Angebote der Gemeinden, die Kindergruppen und Jugendzentren als Errungenschaften auflisteten.

Die Lebenswege des jüdischen Nachwuchses – das habe sie bei ihrer Studie unter 300 Juden im Alter zwischen 20 und 40 Jahren festgestellt – sind voller Brüche, die den Gemeinden Mitglieder rauben, so Körber. Dabei spielten soziale Probleme, so wie es bei der ersten Generation der russischsprachigen Zuwanderer Anfang der 90er-Jahre der Fall war, bei den Jugendlichen heute keine Rolle, genauso wenig wie ihre religiöse Ausrichtung und erst recht nicht die Sprache.

Wechselt das Kind vom jüdischen Kindergarten in eine allgemeine Schule, von einer jüdischen Grundschule auf ein städtisches Gymnasium, hat der Jugendliche seine Bar- oder Batmizwa hinter sich, verlässt der junge Mensch nach dem Schulabschluss die Stadt, um in einer anderen seine Ausbildung oder sein Studium zu machen, verlieren Gemeinden Mitglieder.

Lebenswirklichkeit Hinzu kommt das veränderte Verhalten von Jugendlichen: »Entscheidend ist das Ich, ich mache mal dies und mal jenes.« Darin unterscheide sich das Verhalten jüdischer Jugendlicher nicht von dem, mit dem auch Parteien und andere Religionsgemeinschaften zu kämpfen haben. Doch das fordert eine Flexibilität von den Gemeinden, die sie meist nicht leisten können – vor allem kleinere. »Wir können uns verbiegen, wie wir wollen, wir werden es nicht schaffen, die Jugend zurückzuholen«, fasste es der wissenschaftliche Direktor der Bildungsabteilung, Doron Kiesel, zusammen. »Wenn wir an neue Konzepte denken, so müssen wir immer die Lebenswirklichkeit mit berücksichtigen«, spornte er die Teilnehmer zu neuen Denkansätzen an.

Insofern war gerade die Zusammensetzung des Seminars interessant. Da waren zum Beispiel Brenda Waffel von der Chawurah Gescher Freiburg mit 70 Gemeindemitgliedern und einem großen Freundeskreis sowie Alexander Bondarenko, zu dessen Landesverband Nordrhein 16.000 Mitglieder gehören.

Vergleichbarkeit Ist also ein Vergleich zwischen ihnen unmöglich? Nicht ganz. Die kleinen Gemeinden haben einen enormen Vorteil: »Wir haben den Überblick«, sagte Margarita Suslovic vom liberal geprägten Landesverband der Israelitischen Kultusgemeinden von Niedersachsen. »Wir sehen jedes Kind, bevor es zur Welt kommt«, sagt sie, denn in der winzigen Community kennt jeder jeden. In größeren Gemeinden gibt es zwar eine bessere jüdische Infrastruktur, aber man ist als Mitglied auch anonymer und gerät eher in die Versuchung, seine Freizeit in einem anderen Rahmen zu verbringen.

Die Beiträge beweisen unterdessen: Es gibt genügend engagierte junge Menschen, und einige stellten ihre Initiativen an den beiden Seminartagen auch vor. »Eigentlich ist es nicht das Problem, Kinder und Jugendliche hereinzuholen«, sagt der Jugendreferent der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST), Nachumi Rosenblatt, »sondern sie zu halten.« Sei es Kescher, die Jüdische Studierendenunion Deutschland (JSUD), das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk, Makkabi, Limmud, Jewish Experience, die Berliner Studenteninitiative Studentim und nicht zuletzt die ZWST oder der Bund traditioneller Juden (BtJ): Sie alle haben – erfolgreiche – Projekte, mit denen sie Jugendliche ansprechen.

Marat Schlafstein, Jugendreferent beim Zentralrat, stellte die Projekte Kescher und Jewrovision vor. Kescher ist ein niederschwelliges Angebot, das private Initiativen zum Erhalt jüdischen Lebens unbürokratisch mit bis zu 500 Euro pro Projekt unterstützt. Wichtig ist, dass es einen jüdischen Inhalt hat und der Antragsteller jüdisch ist. Der große Vorteil, so Schlafstein: Es komme der von Karen Körber beschriebenen Soziologie der Jugendlichen entgegen. Es ist nichts Verbindliches, es sind Einzelprojekte, die man auch noch selbst initiieren kann, deren Zeitpunkt und Ort sich individuell bestimmen lassen.

Bindungen Ein zweiter Punkt: die Jewrovision. Aus einer kleinen Idee von einigen Jugendgruppenleitern ist ein Mega- Event geworden, das darüber hinaus Nachhaltigkeit beweist, so Schlafstein. »Die Jugendlichen bereiten sich mindestens sechs Monate darauf vor, sie identifizieren sich mit ihrer Gemeinde oder zumindest mit ihrem Jugendzentrum, sie gehören in dieser Zeit zur Gemeinde.« Dabei wachsen Freundschaften, die auch zum Bindeglied in die organisierte Gemeinschaft werden können.

Dalia Grinfeld, Präsidentin der beim Gemeindetag im Dezember gegründeten Studierendenunion JSUD, stellt diese vor. »Wir verstehen uns als bundesweite Vertretung aller jüdischer junger Erwachsener. Im Zuge unserer Arbeit werden wir unter anderem die regionalen Studierendengruppen dabei unterstützen, sich untereinander zu vernetzen. Sie geben uns die Aufgaben, die wir bearbeiten müssen«, forderte Grinfeld auf. »Das höchste Organ ist bei uns nicht der Vorstand, sondern es sind die Mitglieder, die bestimmen, was gemacht wird.« Außerdem wollten sie die junge jüdische politische Stimme in Deutschland werden. Vor allem aber brachte Grinfeld in Zusammenarbeit mit Laura Cazés von der ZWST eine konkrete Idee mit, die auch für die Gemeinden einen gewissen Charme haben dürfte: das Studycafé. Ein Raum, in dem sich junge Menschen treffen, etwas trinken und vor allem lernen können – nicht zu Hause oder in der überfüllten Uni-Bibliothek, sondern in der Gemeinde. »Die Gemeinde schafft Räume, damit junge Menschen sie nutzen.«

Platznot »Wir haben nicht einmal genügend Platz für unsere verschiedenen Gruppen«, gab Irina Katz, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Freiburg, zu bedenken. Die Platznot sei auch ein Grund dafür, warum orthodoxe und nichtorthodoxe Juden in Freiburg verschiedene Wege gehen.

Judith Neuwald-Tasbach, Gemeindevorsitzende aus Gelsenkirchen, meinte: »In unserer Stadt gibt’s keine Uni.« Fällt damit gleich der Plan ins Wasser? Nein. Räume allein sind nicht das Allheilmittel, ihr Fehlen aber auch nicht die geeignete Ausrede. Es gibt immer Möglichkeiten.

»Wichtig ist doch, dass wir es als unsere Herzensangelegenheit ansehen«, resümierte Neuwald-Tasbach die vielen Beiträge, die an den beiden Tagen zusammengetragen wurden. »Die Probleme sind erkannt, und man hat offen darüber diskutiert«, fasste auch Sabena Donath das Seminar zusammen. Die Teilnehmer würden sich zunehmend den Problemen stellen und nicht nur in der Anklage über die Unzulänglichkeiten verharren, so Donath.

»Fragt nicht immer, was Jugendliche für euch tun können, fragt sie nach ihren Wünschen!«, hatte Nachumi Rosenblatt an die Teilnehmer appelliert. Für Vera Szackamer, die als Bildungsreferentin im Präsidium des Zentralrats die Diskussionen mitverfolgte, steht fest: »Wir müssen umdenken und die Arbeit in den Gemeinden professionalisieren.« Sie werde viele Anregungen mit ins Präsidium nehmen können.

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