Porträt der Woche

»Ich mache weiter«

»Wenn uns jemand von diesen Schülern hassen sollte, dann weiß er wenigstens, was er hasst.«: Jaffa Dahms (69) lebt in Göttingen. Foto: Jan Vetter

Porträt der Woche

»Ich mache weiter«

Jaffa Dahms ist Erzieherin und vermittelt Kindern Kenntnisse über das Judentum

von Gerhard Haase-Hindenberg  25.03.2020 13:42 Uhr

Als ich 1973 nach Göttingen kam, gab es hier noch keine jüdische Gemeinde. Aber es gab Arthur Levi, den Bürgermeister – ein Göttinger Jude, der nach England geflüchtet und nach dem Krieg zurückgekehrt war. Irgendwann ging ich in seine Sprechstunde, um zu fragen, ob ich in Göttingen in einem Kindergarten arbeiten könne. Das hat geklappt. Später waren auch seine Enkel in meinem Kindergarten.

Bürgermeister Levi erzählte mir damals, dass man in Göttingen keinen Minjan mehr zusammenbringen würde, und wenn jemand stirbt, könne man nicht einmal Kaddisch sagen. Ich musste mich also damit abfinden, dass es hier kein jüdisches Leben gab, was ich als sehr traurig empfand.

pessach In den darauffolgenden Jahren, wenn wir zu Pessach einmal nicht nach Israel flogen, fuhren wir nach Hannover, wo man sich für einen Seder anmelden konnte. An anderen Feiertagen, etwa zweimal im Jahr, war ich immer in Israel. Bis heute besuche ich dort regelmäßig meine Schwester und deren Familie.

Hätte ich das nicht gemacht, würde ich in Göttingen, wo es keine Gemeinde gab, die Feste gar nicht gespürt haben. Meinem Sohn wollte ich schließlich jüdisches Leben vermitteln, was mir, glaube ich, ganz gut gelungen ist.

Im Iran war mein Vater Schneider mit einem eigenen Geschäft.

Meine Eltern kamen 1949 aus dem Iran nach Israel, wo schon ein Teil der Familie meiner Mutter lebte. Damals, nach der Staatsgründung, lebten die meisten Einwanderer zunächst in Auffanglagern. Zweieinhalb Jahre später wurde ich in Jerusalem geboren und verbrachte die ersten drei Jahre meines Lebens in einem solchen Auffanglager. Dann sind wir in ein Dorf in der Nähe von Aschkelon gezogen.

IRAN Im Iran war mein Vater Schneider gewesen – mit einem eigenen Geschäft. Im jungen Staat Israel aber wurden Bauern gebraucht. Also wurde er der Landwirtschaft zugeteilt. Wir bauten Gemüse an und hatten auch ein paar Kühe. Ich arbeitete neben der Schule mit.

Oft fuhr ich mit meinem Vater auf der Pferdekutsche hinaus, um Gras für die Kühe zu holen. Meiner Mutter war wichtig, dass ich aber auch eine gute Schulausbildung erhielt. Nach der achten Klasse wechselte ich auf ein Internat, wovon es in Israel viele gibt. Es hieß Kanot und hatte eine landwirtschaftliche Ausrichtung mit einer Gärtnerei, einem Hühnerstall und Pferden.

Meine Lieblingsbeschäftigung war es, in der Gärtnerei zu arbeiten, weil ich gern mit Pflanzen umgehe. In Kanot machte ich ein landwirtschaftliches Fachabitur. Danach ging ich für ein Jahr und acht Monate zum Militär. Ich war in der Nachal, einer Bewegung, die Landwirtschaft und Militärdienst miteinander vereint.

kibbuz Meinen Dienst versah ich in einem Kibbuz, der direkt an der Grenze zu Gaza lag. Dort arbeitete ich mit Kindern. In der Landwirtschaft unternahmen wir damals erfolgreich Versuche, Tomaten in salzigem Boden zu züchten.

Nach dieser Zeit bin ich in den Kibbuz Erez umgezogen. Dort hätte ich bleiben können. Aber da ich die Schule früh abgeschlossen hatte, war ich gerade einmal 19 Jahre alt und habe daher »die große Stadt« Tel Aviv bevorzugt. Ich fand Arbeit als Betreuerin in einem Heim für schwer erziehbare Kinder. Dort verliebte ich mich in einen jungen deutschen Zivildienstleistenden und er sich in mich.

LIEBE Zunächst überlegten wir, gemeinsam in Israel zu leben, aber da er anschließend studieren wollte und es an den israelischen Unis in jedem Fach einen Numerus clausus gab, wäre es schwer für ihn geworden, einen Studienplatz zu finden. Außerdem kostet das Studieren in Israel Geld.

Also bin ich mit ihm nach Deutschland gegangen. Dort haben wir geheiratet. Obgleich in meiner Familie ein sehr religiöses, wenngleich kein ultraorthodoxes Leben geführt wurde, hat es meine Eltern nicht gestört, dass ich keinen Juden geheiratet habe. Sie haben meinen Freund kennengelernt und ihn als Menschen akzeptiert.

In meiner Familie hat sich niemand daran gestört, dass mein Freund Deutscher war.

Er hatte daran gedacht zu konvertieren, aber das ist in Israel ziemlich schwierig und dauert lang. Als wir in Deutschland waren, hat er es dann nicht gemacht, und aus heutiger Sicht sage ich: Gott sei Dank! Denn um Jude zu werden, muss man das von sich aus wollen und nicht nur, weil man heiratet. In meiner Familie hat sich niemand daran gestört, dass mein Freund Deutscher war. Vielleicht weil niemand mit der Schoa in Berührung gekommen war.

Im Bekanntenkreis meiner Mutter aber gab es Leute, die aus Ungarn stammten und Auschwitz überlebt hatten. Es gab damals in Israel viele mit einem ähnlichen Schicksal; sie wollten mit Deutschen nichts zu tun haben. Die Freunde meiner Mutter aber waren geradezu neugierig, einen Deutschen aus der nächsten Generation kennenzulernen. Das Treffen wurde zu einer wirklich schönen menschlichen Begegnung.

AUSBILDUNG Als mein Freund und ich nach Deutschland gingen, hatte ich ein Rückflugticket in der Tasche. Ich wusste ja nicht, was mich erwarten würde. Deshalb war mir das wichtig.

Anfangs musste ich mich ein wenig an die steife Haltung der Leute hier gewöhnen, die so gänzlich anders war als die lockere Stimmung in Tel Aviv. Ich arbeitete zuerst für ein knappes Jahr in einem Altersheim. Diese Stelle hatte mir ein Freund meines Verlobten besorgt, sodass ich überhaupt erst einmal hierherkommen durfte. Noch konnte ich kaum Deutsch, konnte mich mit den alten Leuten also nicht wirklich unterhalten.

Natürlich ging mir die Frage durch den Kopf, was sie in jüngeren Jahren in der Zeit des Nationalsozialismus gemacht hatten. Als sie erfuhren, dass ich eine Jüdin aus Israel bin, hat es mir eine gewisse Genugtuung bereitet, ihnen leibhaftig zeigen zu können: Die Juden leben noch!

nonnen Als ich besser Deutsch konnte, begann ich eine Ausbildung zur Kinderkrankenschwester. Aber die Ausbilderinnen waren Nonnen, und damit kam ich nicht klar. Außerdem habe ich gespürt, dass mein Platz nicht im Krankenhaus war.

Nach einer Weile brach ich das ab und ließ mich zur Erzieherin ausbilden. In diesem Beruf war ich dann 43 Jahre tätig. Mitte der 90er-Jahre kamen viele Juden aus der ehemaligen Sowjetunion nach Göttingen, und es konnte wieder eine jüdische Gemeinde gegründet werden. Mittlerweile sind es zwei – eine orthodoxe und eine liberale.

Bei dem derzeitigen Coronavirus bekommen selbst im Kindergarten die Kinder doch die Unsicherheit der Umgebung mit.

In der liberalen Gemeinde bin ich unserem ehemaligen Bürgermeister Arthur Levi wiederbegegnet. Schon früher habe ich Hebräisch unterrichtet. Das mache ich auch heute noch in der liberalen Gemeinde. Die orthodoxe Gemeinde hatte mich ebenfalls angefragt, aber es kam kein Kurs zustande. Seit sieben Jahren unterrichte ich Iwrit auch in der Uni an der Theologischen Fakultät; der Kurs steht Studenten aller Fakultäten offen.

Bis zum letzten Sommer habe ich tagsüber noch als Erzieherin gearbeitet. Inzwischen bin ich in Rente gegangen, aber den Unterricht an der Uni mache ich weiter. Die Gemeinde bedeutet mir etwas, was ich viele Jahre in Göttingen nicht hatte: einen Ort, an dem sich Juden treffen und gemeinsam die Feste feiern. Es ist für mich zu einem Stück Heimat geworden.

schabbatot An vielen Schabbatot kommen Studenten vom Abraham Geiger Kolleg aus Berlin zu uns. Es ist interessant, mit welchem Selbstbewusstsein die jungen Leute die Gottesdienste leiten. Ich selbst bin Beisitzerin bei unserem Gemeindevorstand und für die Kulturvermittlung nach außen zuständig.

So habe ich etwa das Lichterfest im vergangenen Jahr für eine große Öffentlichkeit hier in Göttingen organisiert. Und da ich nun als Rentnerin mehr Zeit habe, habe ich mir vorgenommen, mehr mit Schulen zusammenzuarbeiten, um den Schülern Kenntnisse über das Judentum zu vermitteln.

Es ist erstaunlich, was man schon kleinen Kindern alles erklären kann: Bei dem derzeitigen Coronavirus etwa bekommen selbst im Kindergarten die Kinder doch die Unsicherheit der Umgebung mit. Man kann ihnen erklären, dass es sehr wichtig ist, sich die Hände zu waschen und in die Armbeuge zu husten. Das können sie schon gut. Nun, da die Kindergärten geschlossen wurden, kann man ihnen auch erklären, wie wichtig es ist, auf Oma und Opa Rücksicht zu nehmen.

KIPPA Neulich habe ich in einer zweiten Klasse etwas sehr Interessantes erlebt. Die Schüler kamen mit einem jungen Mann vom Bundesfreiwilligendienst in die Synagoge, und ich bat ihn, eine Kippa zu tragen. Verblüfft fragt er mich, warum, er sei schließlich Katholik und kein Jude. Da sagte ich ihm, man würde hier diesen Res­pekt auch von einem Nichtjuden erwarten. Außerdem trage auch der Papst eine Kippa. Plötzlich wollten alle Kinder eine Kippa aufsetzen, sie fanden das ganz toll.

In dieser Richtung möchte ich gern weiterhin tätig sein. Schon im Kindergarten feierte ich mit den Kindern jüdische Feste, obwohl kein einziges jüdisches Kind dort war. Ich sage mir: Wenn uns jemand von diesen Schülern hassen sollte, so weiß er wenigstens, was er hasst.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg

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