Porträt der Woche

»Ich helfe gerne anderen«

»Mich begeistert die Fantasie von anderen, denn ich bin eher sachlich«: Alice Kolesnichenko-Fomenok (19) lebt in München. Foto: Christian Rudnik

Porträt der Woche

»Ich helfe gerne anderen«

Alice Kolesnichenko-Fomenok ist Madricha und will Medizin studieren

von Katrin Diehl  26.02.2018 16:24 Uhr

Ich stecke voller Energie. Das ist schon immer so gewesen. Ich mache vieles gleichzeitig und entscheide manchmal recht spontan. Geboren wurde ich 1999 in München, wo ich – so kann man das fast sagen – in der jüdischen Gemeinde groß geworden bin. Meine Familie ist vor über 20 Jahren nach Deutschland gekommen, und zwar aus dem ukrainischen Dnepropetrowsk, dem heutigen Dnipro. Mein Bruder war damals sechs Jahre alt und ich noch gar nicht auf der Welt.

In meinen ersten Erinnerungen sehe ich mich mit meiner Oma unterwegs. Meine Oma hat mich zur Gymnastik gebracht, später zum Kinderchor Hasamir, wo wir Mädchen immer die himmelblauen Kleidchen zu weißen Blusen getragen haben. Ich sehe die Sonntage vor mir, die ich im Jugendzentrum Neshama verbracht habe: Peulot, Chugim, das war meine Freizeit. Später kamen die Machanot-Erlebnisse dazu. Und immer war es meine Oma, die mich irgendwohin gebracht hat.

naale Meine Familie war nie wirklich religiös, bis vielleicht auf meinen Vater, der Tefillin legte. Er stammte aus Georgien und ist gestorben, als ich gerade einmal sechs Jahre alt war. Vielleicht bin ich es später sogar gewesen, die ein bisschen Religion in die Familie hineingetragen hat, Dinge, die ich halt in der Gemeinde oder Synagoge so erfahren habe. Wobei ich wirklich keine regelmäßige Synagogengängerin bin. Das sage ich ganz offen. Mein Judentum ist mir dennoch sehr bewusst, was vielleicht auch damit zu tun hat, dass mich meine Mutter erst einmal in einen ganz normalen Kindergarten geschickt hat. Sie wollte meiner Entscheidung nicht vorgreifen.

Und nach dem Kindergarten war ich mir tatsächlich ganz sicher: Ich möchte in eine jüdische Grundschule, ich will in die Sinai-Schule am Jakobsplatz. Danach kam dann das Luitpold-Gymnasium mit jüdischem Religionsunterricht. Wobei ich sagen muss, dass die Schule noch nie so richtig meins war. Und deshalb folgte vor einigen Jahren auch eine meiner spontanen Entscheidungen.

Ich war gerade in der Neunten und hörte von diesem Programm »Naale«, das jüdische Jugendliche aus der ganzen Welt nach Israel bringt, damit sie dort ihr Abi­tur machen können.
Man wohnt in einem Internat, und gedacht ist das wohl als erster Schritt, der am Ende zur Alija führen soll. Für mich war das so etwas wie ein erster Schubser. Vom Programm hatte ich im April gehört, Anfang Mai war ich bei den Prüfungen, Anfang Juni wurde ich angenommen, Anfang August war ich weg. Und ich muss sagen, es war die richtige Entscheidung.

masada Dieses Leben mit den Jugendlichen von überall her war super. Die Hauptsprache ist am Anfang erst einmal Englisch, aber unser Abitur haben wir dann alle auf Hebräisch gemacht. Meine Schule war in Hod HaSharon, also im Großraum Tel Aviv.
Am Wochenende musste man entweder nach Hause fahren zu seiner Familie, oder man bekam eine Gastfamilie zugeteilt. Meine war supernett und megaoffen. Sie hat mir ganz Israel gezeigt, und wir sind viel zusammen gewandert. Besonders ist mir dabei natürlich die Festung Masada in Erinnerung geblieben. Wenn man da oben steht, das ist schon toll.

Ich habe in dieser Zeit auch den »March of the Living« mitgemacht. Wir waren in Auschwitz, Majdanek, Treblinka, und das ist natürlich etwas sehr Starkes. Das hat mich beeinflusst. Man muss übrigens zu meinem Entschluss, meine Schule in Eretz Israel zu beenden, wissen, dass ich zuvor noch nie in Israel gewesen bin. Meine Spontaneität machte es möglich.

Für meine Mutter, die mich dort einmal besucht hat, war es auch das erste Mal gewesen, und da hatte sie ausgerechnet den Wunsch geäußert, den Ölberg zu sehen. Das wollte sie unbedingt. Na ja, wir mussten dafür durch den Teil Jerusalems, der nun nicht so besonders für seine Freundlichkeit uns Juden gegenüber bekannt ist. Meinen Magen David am Halskettchen habe ich natürlich unter dem Pullover versteckt. Aber trotzdem. Das war alles andere als schön. Man hat geschubst, man hat gespuckt. Was da meiner Mutter wohl durch den Kopf gegangen ist? Sie war sicherlich um mich besorgt.

fantasie Meine Mutter ist Künstlerin. Sie malt. Und die Wohnung, in der ich, seit ich wieder in München bin, zusammen mit ihr lebe, gleicht einem Atelier. Ihre Bilder neigen, so würde ich das beschreiben, zum Realismus, sind aber dennoch sehr eigen. Sie sprühen vor Farbe und Farbenspiel und vor Fantasie. Meine Mutter hat sehr viel Fantasie, und jedes Mal, wenn ich ein neues Bild von ihr sehe, bin ich wie schockiert.

Mich begeistert, dass ein Mensch zu so etwas fähig ist. Ich bin das nämlich nicht. Diese Vorstellungskraft habe ich nicht geerbt. Ich bin sachlich, und mein Plan ist es, Medizin zu studieren. Nächstes Jahr möchte ich damit anfangen. Mein Abitur wird hier anerkannt, und mein Schnitt ist nicht schlecht, sodass ich hoffen kann.

Medizin, denke ich, passt zu mir. Seit ich mich erinnern kann, bin ich jemand, der helfen will. Egal, in welcher Situation ich gerade bin. Mir geht es eigentlich immer sehr stark um andere Menschen. Bis zum Semesterbeginn werde ich die Zeit nutzen. Bio und Chemie muss ich nachlernen, da war in Israel ein anderes Niveau als in Deutschland.

job Nebenbei verdiene ich mir außerdem gerade ein bisschen etwas dazu, und zwar als Kellnerin im israelischen Restaurant »Eclipse«. Der Job ist schon anstrengend, weil das wirklich ein sehr beliebtes und daher stark besuchtes Restaurant hier in München ist, aber die Atmosphäre dort ist super, das Team und der Chef sind meganett, und das Essen schmeckt lecker.

Ich kenne ja israelisches Essen, und ich habe nie und nimmer gedacht, dass es so israelisch auch irgendwo in Deutschland schmecken könnte. Die Leute schwärmen entsprechend: »So ein Hummus! Super Falafel!« Und das sind Spezialisten, das sind Israel-Fans. Aber auch denen muss ich öfters mal erklären, was der Unterschied ist zwischen einem israelischen und einem jüdischen Restaurant.

Ich trage beim Bedienen natürlich auch immer meinen Magen David am Halskettchen, weshalb manche mich auch ansprechen: »Ach, Sie sind Jüdin? Wow!« Man muss das irgendwie verstehen. In den Kreisen, in denen ich mich bewege, habe ich es mehr oder weniger nur mit Juden zu tun. Aber andere Menschen haben mit uns eigentlich nicht so viel zu tun. Manche fragen auch noch weiter nach meiner Geschichte, und ich erzähle dann auch kurz, zum Beispiel, dass ich in Israel war, und sie finden das superinteressant.

jugendzentrum Neben dem Kellnern überbrücke ich die Zeit bis zum Studium außerdem damit, dass ich mich weiter im Jugendzentrum engagiere. Ich bin Madricha, was mir viel Spaß macht. In meiner Gruppe habe ich die Jüngsten, und während ich mit ihnen beschäftigt bin, kommt mir manchmal in den Sinn, wie es für mich selbst als Kleine sonntags im Jugendzentrum gewesen ist. Die Madrichim waren für mich schon Autoritätspersonen, und jetzt gehöre ich selbst zu ihnen.

Im letzten halben Jahr haben wir uns alle natürlich auf die Jewrovision vorbereitet. Dieses Event steht bei uns jedes Jahr stark im Mittelpunkt. Wie oft ich bei der Jewro schon dabei war? Ich weiß es gar nicht. Während der Zeit in Israel hat mir die Jewrovision jedenfalls sehr gefehlt, aber wenigstens war ich per Livestream dabei.

In der Theatergruppe Lo-Minor mache ich auch mit. Wir proben da gerade ein superlustiges russisches Stück, das nächstes Frühjahr aufgeführt werden soll. Auch bei YouthBridge bin ich dabei, das ist ein Programm der Europäischen Janusz Korczak Akademie, das mich sofort angesprochen hat. Wir werden da in interkultureller Kommunikation geschult und machen zusammen Projekte.

oma Ach ja, und Fußball spiele ich auch noch, und das schon ziemlich lange und recht gut. Und immer mal wieder nehme ich mir Zeit für Besuche im jüdischen Altenheim. Meine Oma – die, die mich früher überall hingebracht hat – lebt da jetzt, und zwar zusammen mit ihrer noch älteren Schwester.

Die beiden Frauen haben als junge Mädchen ziemlich viel durchgemacht. Sie haben riesige Strecken mutterseelenallein zurückgelegt und Schlimmes erlebt. Manchmal kommt das wieder in den Kopf meiner Oma zurück, und sie sagt: »Es brennt, es brennt!« Und ich frage sie dann: »Oma, wie alt bist du denn?«, und sie sagt: »13.« Woraufhin ich zu ihr sage: »Nein, Oma, das kann nicht sein, guck mich an – ich bin deine Enkelin, und du bist meine Oma!«

Aufgezeichnet von Katrin Diehl

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