Interview

»Ich hatte großes Glück«

Nach einigen Monaten im russischen Gefängnis: German Moyzhes genießt seine wiedergewonnene Freiheit in Deutschland. Foto: Rolf Walter

Herr Moyzhes, Sie lebten überwiegend in Sankt Petersburg, hatten aber auch einen Wohnsitz in Köln. Ende Mai wurden Sie in Russland verhaftet und in das berüchtigte Lefortowo-Gefängnis in Moskau gebracht. Im August waren Sie Teil des wohl größten Gefangenenaustauschs seit Ende des Kalten Krieges und kamen nach Deutschland zurück. Wie oft haben Sie Ihre Inhaftierung durchlebt?
Die Erinnerung kommt zwar immer wieder hoch, aber ich habe professionelle Hilfe in Anspruch genommen. Eine Traumatherapie hat das ganz gut abfedern können. Und im Moment habe ich nicht den Eindruck, dass mich das Erlebte langfristig verfolgen wird.

Welche Gedanken sind Ihnen durch den Kopf gegangen, als die Polizei Sie verhaftet hat? Sie waren an dem Tag mit dem Fahrrad unterwegs.
Ich war gerade abgestiegen. Und dann habe ich auf einmal eine Gruppe von Männern gesehen, und schon saß ich im Auto. Das ging sehr schnell. Da wurde mir schon klar, was mir blüht. Die Polizisten trugen mir die Anschuldigungen vor – Hochverrat. Das Strafmaß: zwischen zwölf Jahren und lebenslänglich.

Das muss ein Schock für Sie gewesen sein.
Ja, das war hart. Doch es ist deren Strategie, erst einmal einen Menschen richtig unter Druck zu setzen, damit er zu allem Ja sagt und bereitwillig Informationen liefert.

Was hat der Ermittlungsrichter zu Ihnen gesagt?
Dass ich erst einmal nicht an das höchste Strafmaß denken soll. Das sei unrealistisch. Ich solle mich an der Untergrenze orientieren. Das waren zwölf Jahre – auch nicht gerade wenig. Sie haben versucht, mich ein bisschen damit zu ködern, aber auch zu beruhigen, weil das Profis sind. Die wollen ja nicht, dass sich die Menschen etwas antun.

Sie kamen als Kind mit Ihrer Mutter aus Sankt Petersburg nach Köln und besitzen die russische sowie die deutsche Staatsangehörigkeit. Zudem sind Sie Mitglied der Synagogengemeinde Köln und haben eine Torarolle für die Gemeinde in Baden-Baden gespendet.
Das ist meine zweite Heimat. Ich bin zwar sehr verbunden mit den Orten, an denen ich zu Hause bin. Das sind Sankt Petersburg und Köln. Aber ich komme immer wieder gern woanders hin. Deswegen ist Berlin mittlerweile zur dritten Gemeinde für mich geworden, meine zweite Gemeinde in Deutschland ist Baden-Baden. Da war ich sehr oft aus beruflichen Gründen und habe mich dort mit dem Rabbiner und den Mitarbeitern sehr angefreundet.

Wie würden Sie Ihr Leben in Sankt Petersburg beschreiben? Sie haben Konzerte und Veranstaltungen organisiert und sich dort für den Bau von Fahrradwegen eingesetzt.
Aber das hat mit meiner Verhaftung nichts zu tun. Gemeinsam mit Bekannten habe ich einen Verein aufgebaut, der mit dem ADFC in Deutschland zu vergleichen ist. Wir haben mit Diplomaten aus der ganzen Welt viele Veranstaltungen durchgeführt, auch mit Vertretern verschiedenster russischer Behörden und dem regionalen Parlament. Es war Lobbyarbeit nicht nur für das Fahrrad, sondern für weniger Auto und mehr Sicherheit auf der Straße.

Hatten Sie Gegner?
Mein Engagement hat natürlich auch für Unmut gesorgt. Allerdings von wenigen, aber sehr lauten Gegnern, insbesondere was die Parkgebühren angeht. Ich habe mein Gesicht dafür hingehalten. Was die Anklage angeht, so wurden mir meine vielen internationalen Kontakte zum Verhängnis, das vermute ich jedenfalls. Es ging nicht um irgendwelche politischen Aussagen oder Aktionen, die es ja auch kaum gab.

Wie erlebten Sie das jüdische Leben in Sankt Petersburg?
Es ist schön, jedoch habe ich nicht den Eindruck, dass es stärker wird, weil viele nach Israel oder in andere Staaten auswandern. Man schätzt, dass in Sankt Petersburg so an die 50.000 bis 80.000 Juden leben. Leider sind die wenigsten in der Gemeinde aktiv.

Wie beurteilen Sie die aktuelle politische Lage in Russland und die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs sowie des Nahostkonflikts?
Die Lebenssituation ist natürlich gefährlicher geworden, und Meinungsfreiheit gibt es in Russland kaum mehr. Und dann kommt der Krieg gegen Israel dazu, der zusätzlich für Missstimmung und Anspannungen gesorgt hat. In Sankt Petersburg gibt es aber offiziell keine Demos oder Flaggen – die Obrigkeit hält die Bevölkerung neutral.

Obwohl Putin und Netanjahu früher enge Beziehungen pflegten?
Früher ja. Doch durch den Krieg hat sich das verändert. Die jüdische Gemeinde scheint bislang nicht direkt betroffen zu sein; vor Kurzem besuchte der Gouverneur die Gemeinde, was ein Zeichen des Respekts war.

Sie haben Ukrainern geholfen, für ihren Aufenthalt in Deutschland die notwendigen Papiere zu bekommen?
Als Jurist hatte ich immer ukrainische Mandanten, aber das war noch vor dem Krieg. Es waren damals meistens Unternehmer oder Investoren. In den vergangenen Jahren habe ich mich für sie engagiert. Mein Beitrag war gering. Ich habe jetzt eher Geld gesucht für die Ukrainer, die vor dem Krieg nach Russland und dann in die EU geflohen sind.

Sie sind über Russland in die EU geflohen?
Ja, da gibt es Tausende Menschen. Es ist hier kaum bekannt, dass sich so viele Russen unter größtem Risiko für ihre eigene Freiheit für die Menschen aus der Ukraine einsetzen, sie unterbringen und versorgen.

Was motiviert die Ukrainer, ausgerechnet nach Russland zu fliehen?
Es geht nicht anders. Sie müssen irgendwohin fliehen, denn ihre Städte sind zerstört. Viele haben dort auch Freunde und Verwandte.

Ihre Freunde und Angehörigen haben Ihnen geholfen, die Zeit im Gefängnis zu überstehen. Wie haben Sie es geschafft, die Tage zu gestalten?
Die ersten zehn Tage war ich allein. Das war die schwierigste Zeit. Ich habe sofort mit Sport angefangen – in der kleinen Zelle. Und Briefe geschrieben. Auch habe ich viele Briefe erhalten. Einer der ersten kam von einer älteren Dame aus Israel. Es gab auch einen Fernseher. Ich konnte unterschiedliche Programme sehen. Ich hatte das schon seit zehn, 15 Jahren nicht mehr gemacht, aber hier habe ich dann das Fernsehen wiederentdeckt – mit vielen bekannten Gesichtern, besonders aus dem kulturellen Bereich. Die Ärzte im Gefängnis sind sehr sorgsam mit mir umgegangen, und ich wurde dort gesundheitlich betreut. Da hatte ich großes Glück, aber ich kann wirklich nur von meinen eigenen Erfahrungen sprechen.

Hatten Sie Hoffnung?
In meinem Innersten habe ich immer gedacht, ich komme da wieder raus, was ja auch geklappt hat. Ich hatte mir vorgestellt, dass es nicht um zehn oder 15 Jahre geht, sondern um ein paar. Ich dachte: Irgendwann wird man mich austauschen. Ich habe am Anfang gesagt, ich will eigentlich mein Land nicht für immer verlassen.

Dann kam der Gefangenenaustausch, von dem Sie ziemlich überrascht wurden.
Es gab überhaupt keine Informationen dazu. Nur Andeutungen. Ich habe zum Ende der Haftzeit ein Gebetbuch und eine Tora bestellt und diese auch erhalten. Vor dem Austausch war ich schon wieder in einer Einzelzelle. Zwischendurch war ich in einer Zweierzelle untergebracht, mit einem Profi-Fahrraddieb, mit dem ich mich sehr gut verstanden habe und sehr dankbar bin für seine moralische Unterstützung. Ich wusste ja nicht, dass es um Austausch ging. Es war aber im Anschluss die härteste Zeit, weil ich dann wieder allein war. Kein Fernseher, kein Kühlschrank, kein Ausgang mehr.

Nicht gerade beruhigend …
… und dann kam eben ein Mitarbeiter herein und hat mir diese Bücher gebracht. Also Siddur und Tora und die Tehillim. Und er hat sich ganz anders benommen als sonst. Er kam herein, hat mich begrüßt, sich umgedreht, die Bücher hingelegt und sich überhaupt nicht um die Sicherheit gekümmert. Ich dachte: Oh, mein Status hat sich wohl schon verändert, aber in welche Richtung? Das waren die gefühlt längsten Tage der Haftzeit für mich. Am 1. August morgens kamen dann Offiziere in meine Zelle und forderten mich auf, alles zu räumen. Als ich über den Hof – an der frischen Luft – ging, habe ich an alles Mögliche gedacht. Wohin führen sie mich? Und dann auf einmal war ich in dem Bus und habe bekannte Gesichter gesehen – einige waren mir persönlich vertraut, andere kannte ich aus dem Internet oder aus den Medien. Und ja, dann haben wir immer noch nicht verstanden, worum es ging, oder waren uns zumindest nicht sicher. Und irgendwann hieß es: »Sie werden jetzt zum Flughafen gebracht und ausgeflogen.«

Wer hat Sie in Köln in Empfang genommen?
Der Bundeskanzler. Bei der Begrüßung habe ich mich nur bedankt.

Kamen Sie erst einmal in ein Krankenhaus?
Nein, ich wollte nicht noch eine Nacht irgendwo allein verbringen, auch nicht in einem Krankenhaus. Ich wusste, dass Freunde von der Gemeinde auf mich warten.

Haben Sie eine Wohnung in Köln gefunden?
Ja, die Gemeinde hat mir bei der Suche geholfen.

Was haben Sie dann gemacht?
Ich bin viel gereist und war längere Zeit in Israel. Vor allem aber will ich Menschen treffen und Kontakte pflegen. Das brauche ich jetzt.

Sind Sie ein wenig zur Ruhe gekommen?
Ich habe es hingenommen, dass ich nicht mehr nach Russland kann. Meine Wohnung dort stelle ich Freunden zur Verfügung.

Es gibt ein Foto von Ihnen mit einer Katze auf der Schulter. Sind Sie ein Katzenfreund?
Ja, auf dem Foto ist mein Kater zu sehen. Er heißt Margolin. Das ist der Name einer jüdischen Kaufmannsfamilie aus Sankt Petersburg, in deren ehemaligem Haus meine Wohnung ist. Deswegen habe ich ihn so genannt. Der Kater lebt jetzt bei meiner Mutter in Köln.

Können Sie wieder unbeschwert mit dem Fahrrad unterwegs sein?
Ja.

Mit dem Juristen und Aktivisten sprach Christine Schmitt.

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