Porträt der Woche

»Ich habe einen Traumberuf«

Zwetana Eichhorn ist Krankenschwester, geht gern ins Theater und fährt viel Rad

von Christine Schmitt  28.11.2023 09:34 Uhr

Zwetana Eichhorn (49) wurde in Odessa geboren und lebt heute in Berlin. Foto: Chris Hartung

Zwetana Eichhorn ist Krankenschwester, geht gern ins Theater und fährt viel Rad

von Christine Schmitt  28.11.2023 09:34 Uhr

Mit Leib und Seele bin ich Krankenschwester. Für mich kam und kommt kein anderer Beruf infrage. Als ich die Möglichkeit hatte, nach meiner Ausbildung Medizin zu studieren, überlegte ich kurz, um dann zu dem Entschluss zu kommen, dass es für mich keine Option ist. Ich war damals 17 Jahre alt und hatte mein »rotes« Diplom, was »sehr gut« bedeutet, in der Tasche.

Ohne Aufnahmeprüfung hätte ich Medizin studieren können, aber ich wollte lieber eine gute Krankenschwester sein, als eine schlechte Ärztin werden. Eine unbekannte Größe war auch das »J« in meinem Ausweis. Vielleicht hätte ich allein deshalb doch keinen Studienplatz bekommen.

Damals wohnte ich noch mit meinen Eltern und Großeltern in Odessa, wo ich 1974 geboren wurde. Viele Juden haben zu dieser Zeit in der wunderschönen Hafenstadt gelebt. Mein Opa sprach Jiddisch – vor allem, wenn ich etwas nicht erfahren sollte. Ich bin ein Einzelkind und wuchs in einer liebevollen Familie auf.

Mahlzeiten in der Gemeinschaftsküche

Viel Zeit verbrachte ich auch bei meinen Großeltern, zwischendurch habe ich sogar bei ihnen gewohnt. Sie lebten in einer Einzimmerwohnung, und ihre Mahlzeiten mussten sie sich in einer Gemeinschaftsküche zubereiten. Ein Bad gab es nicht. Meine Mutter berichtete, dass sie früher zusammen mit meiner Uroma, meinen Großeltern und meinem Onkel auf diesen wenigen Quadratmetern leben musste. Dagegen war die Einzimmerwohnung meiner Eltern mit einer modernen Küche und eigenem Bad Luxus.

Nach meiner Schulzeit hatte ich überlegt, was ich beruflich machen könnte. Dass es etwas mit Menschen sein sollte, stand für mich fest. Vielleicht Erzieherin? Oder Hebamme? Meine Mutter gab mir den Tipp, dass es immer Menschen geben wird, die krank sein werden. Also machte ich erst einmal ein Praktikum in der Kinderklinik – auf der Intensivstation. Nach dem Praktikum sprach die dortige Oberschwester eine Empfehlung für mich aus, die man damals dort brauchte.

Schließlich klappte alles, ich konnte meine Ausbildung starten. An meinem ersten Tag nahm mich eine andere Oberschwester in den Arm und sagte, dass sie mir alles neu beibringen würden. Wenn ich Frühdienst hatte, musste ich bei ihr antreten, damit sie mir das Material zuteilen konnte. Es gab einen Streifen Pflaster und ein paar wenige Einwegspritzen, die für alle Patienten an diesem Tag reichen mussten. So wurden die Einwegspritzen zu Mehrwegspritzen. Ich musste also haushalten. Wenn ich heute daran denke, wird mir bewusst, wie gut wir es hier haben.

Mit einem klapprigen Bus kamen wir nach drei Tagen in Nürnberg an.

Mein Onkel, der Bruder meiner Mutter, hatte das Leben in der Ukraine schon in den 70er-Jahren nicht mehr ausgehalten und wanderte damals aus. Der einstige Eiserne Vorhang verhinderte, dass meine Großeltern und er sich in den nächsten Jahrzehnten treffen konnten. Es gab nur das Briefeschreiben und die Verabredungen zum Telefonieren, was damals auch sehr kompliziert war, da kaum jemand ein Telefon besaß.

Im Frühjahr 1994 emigrierten meine Großeltern

Im Frühjahr 1994 emigrierten meine Großeltern, meine Mutter und ich ebenfalls. Wir ließen unsere Möbel zurück, und ich musste mich von den Freunden meiner Kindheit verabschieden – und von meiner ersten Liebe. Ich war damals knapp 19 Jahre alt. Mit einem klapprigen Bus und einigen wenigen Koffern kamen wir nach drei Tagen in Nürnberg an. Der Bus hatte unterwegs einen Platten, und es gab erst einmal keinen Ersatzreifen. Von der Nürnberger Gemeinde wurden wir herzlich empfangen. Erst kamen wir in einer Sammelstelle unter, später in einem Übergangswohnheim. Zu viert lebten wir wieder in einem Zimmer.

Aber die kommenden elf Monate habe ich in guter Erinnerung, denn es war eine aufregende Zeit. Ich war ehrgeizig und wollte so schnell wie möglich Deutsch lernen. Auch, damit ich die Chance hatte, andere Leute kennenzulernen. So saßen meine Mutter und ich in einem Sprachkurs und paukten. Schließlich konnte ich als Pflegehelferin im Seniorenheim der jüdischen Gemeinde in Nürnberg arbeiten. Meine Ausbildung aus der Ukraine wurde nicht anerkannt.

Nach dem ersten Arbeitstag war ich fix und fertig. Obwohl ich den Deutschkurs mit guten Noten abgeschlossen hatte, war es nun eine Herausforderung, alles zu bewältigen. Die Sprache kam mir wie ein Lied vor, bei dem ich die Worte nicht auseinanderhalten konnte. Ich fand viele Freunde in Nürnberg, und die Arbeit mit den älteren Leuten brachte mir Spaß. Nach elf Monaten konnten wir nach Berlin umziehen, wo mein Onkel mit seiner Familie lebte, und landeten in einem Übergangsheim am Schöneberger Ufer. Sofort kümmerte ich mich um eine neue Arbeit – und bewarb mich als Pflegehelferin im Jüdischen Krankenhaus.

Die ersten Monate in Berlin waren für mich keine schöne Zeit, denn ich fühlte mich einsam und hatte Angst, mich zu verlieren. Die Gemeinde kam mir sehr anonym vor, sodass ich keinen Anschluss fand. Bei der Arbeit war ich innerhalb kürzester Zeit sehr beliebt. Denn ich hatte Angst vor den endlosen Tagen an den Wochenenden, weshalb ich gern die Dienste übernahm. Nach sechs Monaten wurde meine Ausbildung als Krankenschwester schließlich anerkannt. Mittlerweile bin ich seit 28 Jahren im Jüdischen Krankenhaus. Hier bin ich groß geworden. Und da es mir so gut gefällt, habe ich meiner Tochter empfohlen, auch Krankenschwester zu werden. Nun sind wir beide hier.

Patienten aus verschiedenen Herkunftsländern

Viele Stationen habe ich kennengelernt. Mein Zuhause in der Klinik ist die ambulante Behandlungsstelle. Hier kommen Patienten an, die operiert werden müssen oder eine zweite Meinung einholen möchten. Mit jedem versuche ich in Ruhe zu reden. Wir haben im Wedding Patienten aus verschiedenen Herkunftsländern. Viele Jahre habe ich hier als Krankenschwester gearbeitet, bis die Stationsleitungsstelle frei wurde.

Meine Kollegen baten mich, diese zu übernehmen. Aber dazu gehörte noch eine zweijährige Zusatzausbildung. Das war schon anstrengend. Nun habe ich familienfreundliche Arbeitszeiten, entweder Frühdienst bis 14.46 Uhr – genau dann endet die Schicht – oder Spätdienst. Ich weiß, dass ich spätestens 20 Uhr Feierabend habe. Also, für mich ist es perfekt. Ich habe einen Traumberuf.

Russisch ist meine Muttersprache, die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine kann ich somit verstehen und sie mich.

Russisch ist meine Muttersprache, die meisten Flüchtlinge aus der Ukraine kann ich somit verstehen und sie mich. In Odessa habe ich keine Verwandten mehr. Mein Vater, der nicht mit uns emigrierte, ist schon lange gestorben. Aber mit zwei Freundinnen, mit denen ich aufgewachsen bin, habe ich noch Kontakt. Seit 30 Jahren haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich unterstütze sie mit Geld und Paketen. Der russische Angriffskrieg ist schlimm für sie, sie müssen ständig Schutz suchen und sind fix und fertig mit den Nerven. Nun kommt auch noch der Krieg gegen Israel dazu. Wir Juden sind mit zwei Kriegen sehr belastet. Es ist unerträglich.

Was mir Halt gibt, ist unser Miteinander im Krankenhaus. Kürzlich bekam ich mit, wie eine jüdische Ärztin aus Israel sich mit einem arabischen Arzt aus Israel unterhielt. Sie umarmten sich und hatten Tränen in den Augen. Beide haben Angst. Alle machen sich Sorgen. Ein arabischer Arzt aus Nazareth berichtete mir ganz aufgeregt, dass sein Bruder ihn angerufen habe, als er bei einer Untersuchung war. Natürlich konnte er nicht ans Telefon gehen, machte sich aber die ganze Zeit große Sorgen. Auch wir umarmten uns – vereint in der Trauer.

Ich bin eher gesellig, mag Menschen und das Leben

Meine Großeltern, mit denen ich nach Berlin kam, sind bereits gestorben und wurden auf dem Friedhof Weißensee beerdigt. Wenn ich schlechte Träume habe, dann zieht es mich zu ihnen, und ich fahre nach Weißensee. Glücklicherweise hatte ich bis zum Ausbruch der Kriege nicht so viele Albträume. Ich bin eher gesellig, mag Menschen und das Leben. Ich möchte es nicht schwerer machen, als es schon ist. Vielleicht begehe ich auch deshalb alle Feiertage – egal, ob Weihnachten oder Chanukka.

Wenn ich nicht im Krankenhaus bin, dann besuche ich gern Vorstellungen im Steglitzer Schlossparktheater. Oder im Tipi-Zelt. Ich mag die eher leichteren, humorvollen Stücke. Aber auch Opern und Musicals. Eine weitere Leidenschaft habe ich für Radtouren und Ausflüge. Mit meinen Kindern bin ich durch Brandenburg geradelt, an der Spree und der Havel entlang. Da ich in der Hafenstadt Odessa groß geworden bin, liebe ich Städte, die am Wasser liegen. Nach Italien reise ich auch gern, da bekomme ich immer Heimatgefühle.

Meine Zwillinge kamen 2003 auf die Welt. Wir drei wohnen noch zusammen – aber nicht in einer Einzimmerwohnung. Ich bin glücklich geschieden.

Worüber ich mir Sorgen mache, ist die Zukunft des Jüdischen Krankenhauses, das von einer Stiftung getragen wird und sich nicht in kommunaler Hand befindet. Die Inflation und die erhöhten Energiepreise setzen den Kliniken zu, weshalb Defizite in den Etats entstehen. Da muss das Land Berlin Hilfe anbieten. Ich möchte meinen geliebten Arbeitsplatz schließlich behalten. Meine Kollegen und ich sind wie eine Familie – seit vielen Jahren arbeiten wir zusammen. Aber die beiden Kriege überschatten derzeit alles.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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