Porträt der Woche

»Ich bin viel in der Synagoge«

Die Chanukkia hat er vergangenes Jahr für seine Freiburger Gemeinde angefertigt: Miron Lvov-Brodsky (74) Foto: Thomas Kunz

Mit 60 Jahren kam ich nach Deutschland. Erst da entdeckte ich die jüdische Kultur. Früher, in der Sowjetunion, durfte ich mich dafür nicht interessieren. Jetzt lebe ich mit meiner Frau in Freiburg. Wir fühlen uns wohl, ich bin viel in der Synagoge.

Da knüpfe ich an meine Kindheit an, an die jüdischen Feste, die mein frommer Großvater feierte. Vor ein paar Monaten habe ich eine Chanukkia für die Israelitische Gemeinde angefertigt, einen Kerzenleuchter aus Messing. Als nächstes kommt ein Porträt aus Kupfer von Gertrud Luckner, einer Freiburgerin, die im Nationalsozialismus viele Juden gerettet hat. Ich fühle mich fit. Im Herbst werde ich 75 Jahre alt.

Für einen Rentner wie mich sind alle Tage ähnlich. Ich lebe mit meiner Frau in einer Zweizimmerwohnung. Jeden Morgen um acht Uhr gehe ich mit unserem Hund spazieren. Es ist ein kleiner schwarzer Pinscher, er heißt Zeus. Mittags geht meistens meine Frau mit ihm hinaus, abends wechseln wir uns ab. Nachmittags bestimmt unsere Enkelin Nicole mein Programm.

Sie ist sechs Jahre alt und die jüngere Tochter meines Sohnes, der mit seiner Familie mit nach Deutschland gekommen ist. Die Ältere ist 23 und macht eine Ausbildung bei der Polizei. Ich habe noch eine dritte Enkelin, die Tochter meiner Tochter, sie ist 21 Jahre alt. Aber sie lebt in Odessa, wie meine Tochter. Leider sehe ich sie meist nur über Skype.

Nicole hingegen sehe ich oft. Dienstags und donnerstags hole ich sie von der Rhythmischen Gymnastik ab. Ihre Mutter unterrichtet dort, sie muss noch weiter unterrichten, wenn Nicole mit mir nach Hause geht. Mittwochs bringe ich Nicole abends in die Gemeinde zum Musikunterricht. Sie lernt Klavier, zusammen mit drei anderen Mädchen. Wenn ich mit Nicole zusammen bin, gehen wir manchmal spazieren oder machen Wortspiele auf Russisch. Ich spreche nicht so gut Deutsch, und Nicole soll zweisprachig aufwachsen. Wir gehen auch ins Kino oder zu Festen in die Synagoge. An Purim hat sie zwei Mal den ersten Preis für die beste Verkleidung gewonnen.

biografie Meine Kindheit war ganz anders als die meiner Enkelinnen. Ich bin während des Zweiten Weltkriegs aufgewachsen. Ich wurde 1939 in Dnjepropetrowsk in der Ukraine geboren. Als Deutschland Russland im Jahr 1941 angriff, wurde meine Familie nach Usbekistan evakuiert. Ich war sehr klein, doch ich kann mich noch an die Enge erinnern. Es gab kaum Männer, denn die waren alle an der Front. Auch mein Vater war weg. Wir litten Hunger, und die hygienischen Bedingungen waren schlecht.

Aus dem Krieg brachte mein Vater ein Stück Stoff mit, daraus wurden Militäruniformen für mich und meinen Bruder genäht. Wenn in der nahe gelegenen Kaserne die Soldaten auf und ab marschierten, zogen wir Jungs unsere Uniformen an und grüßten die Soldaten. Wir Kinder haben die Triumph-Stimmung gespürt und die allgegenwärtige Propaganda verinnerlicht: Unsere Rote Armee hatte gesiegt! Alle freuten sich in dieser Zeit – über die Rückkehr der Männer und das Ende des Krieges. Es wurde lange gefeiert, mit Wodka, Tänzen und viel Stolz.

Später bekamen meine Eltern, mein Bruder und ich eine Kommunalwohnung zugeteilt. Das war im Prinzip keine Wohnung, sondern nur ein Zimmer für uns alle. Küche und Toilette teilten wir uns mit fünf anderen Familien, von denen jede in einem Zimmer lebte. Ich wohnte dort, bis ich mit 19 Jahren zur Armee ging. Mein Vater war nur bis 1947 bei uns. Dann trennten sich meine Eltern, und wir bauten in unser Zimmer eine kleine Trennwand aus Holz, aber das half nicht viel.

Es war eine schwierige Zeit. Meine Mutter war fast den ganzen Tag auf Arbeit. Wir Kinder waren viel allein und oft hungrig. Damals haben Kinder mit Wurfgeschossen Sperlinge getötet, die wurden dann verzehrt. 1957 verließ ich nach der zehnten Klasse die Schule und arbeitete als Dreher. Ein Jahr später begann mein Wehrdienst.

Auswanderung Ich habe nie danach gestrebt, nach Deutschland zu kommen. Aber in den 90er-Jahren wurde mir allmählich bewusst, dass es für mich in der Ukraine wegen des Antisemitismus keine Möglichkeit mehr gab, mich zu entwickeln. Es war eine Zeit der Umbrüche. Die Entscheidung für Deutschland fiel mir nicht leicht. Vier Jahre mussten wir auf die Ausreise warten. Unser Sohn und seine Frau kamen mit.

Zuerst wohnten wir zwei Jahre in einem Heim in Thüringen. Dann habe ich im badischen Weil am Rhein Arbeit gefunden, als Stanzendreher. Ich machte wieder das, was ich unmittelbar nach der Schule, vor meinem Ingenieursstudium, getan hatte. Nach einiger Zeit gab es immer weniger Aufträge, und weil ich Zeitarbeiter war, wurde mir gekündigt.

Überall sagte man, dass ich in meinem Alter keine Arbeit mehr finden könne, ich war ja über 60. Zwar bekam ich Geld zum Überleben, aber zuerst litt ich sehr unter dem Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden. Und ich hatte Heimweh: nach den alten Freunden, meinem alten Alltag, unserem Sommerhäuschen in der Ukraine. Dann fing ich an, zu den Gottesdiensten in die Synagoge zu gehen. Ich suchte ein neues Zuhause. Früher in der Ukraine gab es keine Synagoge. Religiöse Juden liefen Gefahr, ihre Arbeit zu verlieren. Auch mein frommer Großvater hat die jüdischen Feste nur heimlich gefeiert. Uns Kinder haben sie immer fasziniert. Nicht nur wegen der Geschenke, die wir bekamen, sondern weil wir etwas Neues kennenlernten.

Inzwischen gehe ich regelmäßig in die Synagoge. Jeden Schabbat, an allen Feiertagen und oft auch werktags, um zu helfen. Zusammen mit ein paar anderen habe ich alle Gräber des alten und des neuen jüdischen Friedhofs recherchiert und in Pläne eingezeichnet. Das war eine Riesenarbeit! Allein auf dem alten Friedhof gibt es 1080 Gräber, die ältesten sind 220 Jahre alt. Wir haben die Gräber nummeriert, und zu den beiden Karten gibt es Hefte zum Nachschlagen: Wer wurde wann in dem Grab beerdigt, und in welchem Zustand ist das Grab? Jetzt soll alles noch digitalisiert werden, dann können Angehörige weltweit über das Internet nach ihren Verwandten suchen.

In der Ukraine spürte ich in meiner Jugend immer wieder Antisemitismus. Deshalb ging ich nach dem Wehrdienst mit einem Freund nach Ostsibirien. Ich wusste, dass ich wegen meiner jüdischen Herkunft in der Ukraine wenige Chancen hatte, die Aufnahmeprüfung für die Uni zu bestehen. In Sibirien war das anders. Ich wollte Ingenieur werden und habe schließlich an der Polytechnischen Hochschule in Irkutsk studiert.

Sibirien Nach dem Studium ging ich wie viele Akademiker nach Nowosibirsk, dort habe ich in einer Metallfabrik gearbeitet. Genau wie früher als Kind musste ich mit meiner Familie wieder in der Enge eines einzigen Zimmers leben. Deshalb blieb ich nur dreieinhalb Jahre und wechselte dann zurück in die Ukraine, nach Saporoschje. Da habe ich wieder in einer Metallfabrik gearbeitet, bis ich die Ukraine 1999 verließ.

Im Alltag habe ich den Antisemitismus damals nicht so gespürt. Doch manchmal, wenn alle zu viel getrunken hatten, fielen plötzlich Schimpfwörter. Dann hieß es: »Du bist ja nicht so wie die anderen Juden, du bist eine Ausnahme.« Auch in Deutschland habe ich Antisemitismus erlebt, aber seltener. In Thüringen fuhren Skinheads an unserem Haus vorbei und grölten: »Juden raus!« Und in Freiburg stand dasselbe mal als Graffiti auf einem Hochhaus und wurde erst nach ein oder zwei Monaten entfernt.

Aufgezeichnet von Anja Bochtler

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