Porträt der Woche

»Hunger verändert Menschen«

»Früher hassten wir Deutsch wegen des Krieges«: Tatiana Polotovskaya (85) Foto: Jörn Neumann

Porträt der Woche

»Hunger verändert Menschen«

Tatiana Polotovskaya hat die Leningrader Blockade überlebt. Heute wohnt sie in Köln

von Matilda Jordanova-Duda  02.11.2015 20:51 Uhr

Da liegt mein Terminkalender. Wenn es keine Einträge gibt, bedeutet das, wir sind zu Hause, sehen fern, lesen. Ich lese, bis mein krankes Auge wehtut. Mir wurde vor einigen Jahren ein Grauer Star operiert. Vor anderthalb Jahren wurde mir fremde Hornhaut eingepflanzt. Als mein Mann noch gesund war, besuchten wir oft das Gemeindezentrum in unserem Kölner Stadtviertel. Er spielt dort Schach. Hin und wieder begleite ich ihn zum Spiel.

Alleine lasse ich ihn jetzt nicht mehr gehen, denn er hat eine schwere Operation hinter sich. Mein Hobby ist es jetzt, meinen Mann wieder auf die Beine zu bekommen. Nach der Operation ging es ihm sehr schlecht, nichts interessierte ihn mehr. Unsere Hausärztin bot mir an, ihn ins Altersheim einzuliefern. Nur über meine Leiche! Was soll ich sagen: Er war bettlägerig, jetzt läuft er herum. Die Krankengymnastik hat geholfen.

Jetzt spielt er wieder Schach, liest Bücher, sieht fern. Ein- bis zweimal pro Woche gehen wir zusammen in den Supermarkt, ansonsten machen wir Spaziergänge: mal um den Block, mal die Straße entlang und zurück. Er stützt sich auf den Rollator. Der wurde eigentlich mir verschrieben, weil es eine Zeit gab, in der ich häufiger hingefallen bin und mich verletzt habe. Manchmal vergesse ich eben, wie alt ich bin, und will ganz schnell etwas schaffen.

familie Allein könnte ich die Pflege jedoch nicht schultern. Meine Tochter hilft mir viel. Sie ist Englischlehrerin. Deutsch beherrscht sie auch perfekt. Auch der Schwiegersohn kommt oft und hilft im Haushalt. Wenn unser Enkel in der Gegend ist, schaut er vorbei und fragt: Und, tut etwas weh? Wir: Nichts!

Früher ging ich ins Gemeindezentrum und zum Sprachkurs, fünf Jahre oder länger. Deutsch hatte ich schon in der Schule und als Fachsprache im Chemiestudium. Aber wir hassten damals Deutsch wegen des Krieges. Ich hatte nur »Befriedigend« in diesem Fach, obwohl ich sonst eine Einser-Schülerin war. Meine Mutter ist in Riga aufgewachsen, sie konnte Deutsch perfekt und schrieb meine Schulvorträge, damit ich eine bessere Note bekam.

Fast mein ganzes Leben habe ich in Leningrad verbracht. Als der Zweite Weltkrieg begann, war ich knapp elf Jahre alt. Ich habe schrecklich geweint, als ich die Ansprache Molotovs im Radio hörte. Ich schrie die Nachbarn in der Gemeinschaftswohnung an: Steht nicht herum, Hitler greift uns an!

hunger Von der Leningrader Blockade habe ich nichts vergessen. Im Herbst musste ich schon in der Schlange anstehen, um Lebensmittel für unsere Marken zu bekommen. Bald gab es nur noch Brot, und zwar von unglaublich schlechter Qualität. Viele Jahre später besuchte ich mit meinem Enkel das Petersburger Brotmuseum und las dabei die Zutatenliste aus der damaligen Zeit: Tapetenkleister, Zellulose, Pflanzenreste. Mehl war kaum darin enthalten. Richtiges Brot aus Mehl gab es erst Monate später, als die Versorgung über den zugefrorenen Ladoga-See funktionierte.

Mama hielt mich an, zu lesen und zu sticken, um nicht an den leeren Magen zu denken. Ich las von früh bis spät, abends beim Licht einer Funzel, weil es keinen Strom gab. Papa versuchte ich nicht unter die Augen zu kommen. Ich hatte damals richtig Angst vor ihm, denn der Hunger verändert den Charakter.

Als Papa vor Hunger starb, war Mama unterwegs, um Linsen aufzutreiben. Ich sah, Vater ging es schlecht. Ich habe ihm eine Wärmflasche unter die Füße gesteckt, ein feuchtes Tuch auf das Herz gelegt, gab ihm Ammoniak zu riechen – alles, was mir einfiel. Es half nichts. Er zitterte und röchelte, und dann hörte es auf. Mama kam zurück und konnte auch nichts mehr tun. Wir kochten die Linsen und aßen sie, während der Tote daneben lag. Der Hunger macht den Menschen zum Tier. Am nächsten Tag half die Nachbarin, das Bett mit Papas Leiche ins ungeheizte Nebenzimmer zu schieben. Dort war es genauso kalt wie auf der Straße.

tagebuch Im Sommer wurde es etwas besser: Wir bekamen Getreide, ein wenig Butter, Zucker. Kindern standen hin und wieder Rosinen oder Nüsse zu, hin und wieder sogar eine Schokolade, die man sofort hinunterschlang. Ich weiß das alles so genau, weil ich nach dem Tod meines Vaters ein Tagebuch angefangen habe. Das zeige ich keinem: Es ist voller Rechtschreibfehler.

Ein Schuljahr habe ich wegen des Krieges verpasst. Danach ging ich zur Schule in den Bombenkeller, auch das unregelmäßig, weil das Stadtzentrum bis zum 27. Januar 1944 ständig unter Beschuss stand. Ich weiß nicht mehr, wie oft Bomben abgeworfen wurden.

Mama erzählte mir: Heute Nacht hat die Flugabwehr geschossen, du bist aber gar nicht aufgewacht. Ich schlief, weil ich auf einem Ohr taub geworden war. Das ist bis heute so geblieben. Warum, weiß ich nicht. Wer ging schon 1942 deswegen zum Arzt? Wahrscheinlich war es wegen des Stresses.

Im Sommer 1943 schickte man die Mädchen aufs Land, um bei der Feldarbeit zu helfen. Aus meiner Klasse wählte man die Kräftigeren aus. Ich wog mit meinen 13 Jahren nicht mehr als 28 Kilogramm. Mich wollte man nicht, aber Mama bat den Schulrektor inständig: Man ernährte die Kinder dort besser. Ich verstand auch nichts von Landwirtschaft, glaubte wahrscheinlich, das Brot wächst auf Bäumen. Unkraut sollte ich jäten und habe es mitsamt dem Kohl herausgerissen.

medaille Später habe ich gelernt zu unterscheiden und stopfte mir den Kohl in den Mund. Die Narbe auf der Hand ist mir aus der Zeit geblieben: Ich schnitt mich beim Jäten an einer Glasscherbe. Desinfiziert wurden solche Sachen damals nicht. Aber ich habe überlebt und bin sogar aufgeblüht, denn ich kriegte Brot satt.

Fünf Monate habe ich dort Gemüse für die Front aufgezogen. Dafür bekam ich die Medaille für die Verteidigung Leningrads. Ich weiß noch, wie ich auf die Bühne gerufen wurde. Ich war klein und schmächtig, und der Mann, der mir die Medaille überreichen sollte, fragte erstaunt: Mädchen, wie alt bist du denn? Ich sagte ganz stolz: 13!

1949 begann ich ein Ingenieursstudium der Elektrochemie. Nach sechs Jahren in einer Galvanik-Fabrik wurde ich leitende Spezialistin in einem Forschungsinstitut. Später machte ich mir große Sorgen, dass man meinen Enkel zum Wehrdienst einzieht. Früher dachte man, der Wehrdienst macht aus Jungen Männer. Aber in den 90er-Jahren wurde bekannt, welchen Misshandlungen die jungen Soldaten ausgesetzt waren. Ich mochte gar nicht daran denken, wie es ihm in der Armee ergehen würde.

Judentum Als meine Tochter nach Deutschland auswandern wollte, stimmte ich daher sofort zu. Letztendlich profitierten auch wir davon, denn sonst wären wir nicht mehr am Leben. Mein Schwiegersohn durfte Russland erst fünf Jahre später verlassen. Unser Enkel litt sehr unter der Trennung. Bis er 14 war, reiste er mit mir zusammen nach Petersburg, um den Vater in den Ferien zu besuchen.

Ich half mit, den Jungen großzuziehen. Er ist Musiker und unterrichtet an einer Musikschule Klavier und Keyboard. Einmal im Jahr unterhält er mit seiner Band Passagiere auf Kreuzfahrtschiffen.

Die jüdischen Bräuche kennen und befolgen wir leider nicht. Ich kann mich noch an meine Großmutter erinnern, wie die Gäste an Pessach zu ihr kamen – aber das war alles vor 1939. Nachdem sie gestorben war, feierte keiner mehr.

Auch mein Mann hat seine Großeltern früh verloren. So gab es niemanden, von dem wir die Traditionen hätten übernehmen können. Die Mütter arbeiteten ja von früh bis spät. Meine Mutter litt sehr darunter, dass sie an Jom Kippur arbeiten musste. Sie fastete den ganzen Tag, wagte aber nicht, Urlaub zu nehmen: Man hätte so erraten können, dass sie Jüdin ist.

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