Porträt der Woche

Hürden überspringen

Natalya Nepomnyashcha erlebte Ausgrenzung und setzt sich für Chancengleichheit ein

von Naomi Gronenberg  30.03.2023 11:21 Uhr

»Unter den Geförderten war ich die einzige Realschülerin«: Natalya Nepomnyashcha (33) lebt in Berlin. Foto: Stephan Pramme

Natalya Nepomnyashcha erlebte Ausgrenzung und setzt sich für Chancengleichheit ein

von Naomi Gronenberg  30.03.2023 11:21 Uhr

»Sie gehören hier nicht hin«, bekam ich zu hören, als ich mich als Schülerin beim Konrektor eines Gymnasiums in Bayern vorstellte. Zu dieser Zeit besuchte ich eine Realschule, hatte sehr gute Noten und wollte mich um einen Schulwechsel bemühen, um die Abiturprüfung ablegen zu können. Mein Ziel war ein Hochschulstudium. Doch die im deutschen Schulsystem starr verankerten Regeln und Vorgehensweisen erschwerten mir den sozialen Aufstieg durch Bildung erheblich.

Das System tut sich schwer damit, Menschen als Individuen zu sehen, denke ich, wenn ich mich heute an die Situation erinnere. Deswegen setze ich mich auch dafür ein, dass es diese Schemata irgendwann nicht mehr geben wird. Individuelle Stärken zu erkennen und zu fördern, ist aktuell kaum möglich, Lehrerinnen und Lehrer haben auch schlichtweg nicht die Kapazitäten. Das möchte ich ändern.

Geprägt von meinem eigenen Werdegang habe ich daher 2016 das »Netzwerk Chancen« gegründet, um jungen Erwachsenen aus nicht akademischen oder finanzschwachen Verhältnissen den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Heute unterstützt das soziale Unternehmen mit sieben haupt- und mehr als 40 ehrenamtlichen Mitarbeitern über 1800 Personen durch Mentoring-Programme, Einzelcoachings, Workshops und die Vermittlung von Jobangeboten. Im Durchschnitt sind die geförderten Personen 28 Jahre alt, 90 Prozent von ihnen sind Akademikerinnen und Akademiker.

RELIGION Ich wurde 1989 in Kyiv, so die ukrainische Schreibweise der Hauptstadt, geboren und kam 2001 mit meinen Eltern als sogenannter Kontingentflüchtling nach Augsburg. Religion wurde bei uns zu Hause – typisch sowjetisch – kaum gelebt. Bei der Ankunft in Deutschland hat die jüdische Gemeinde jedoch eine wichtige Rolle gespielt, vor allem, wenn es darum ging, behördlichen Anforderungen nachzukommen.

Die Gemeinde ist bis heute eine Stütze für meine Eltern, gerade im sozialen Bereich. Dennoch empfand ich die Umstellung damals als schwierig, vor allem aufgrund des fehlenden Sicherheitsnetzes im engeren persönlichen Umfeld. Ich habe anfangs oft zu meinen Eltern gesagt, dass ich zurück möchte.

Meine ersten Freundschaften sind vor allem aufgrund vorhandener Gemeinsamkeiten mit Kindern entstanden, die ebenfalls Russisch sprachen. Nach zwei Übergangsklassen habe ich schließlich auf einer Realschule gelernt und erhielt aufgrund meiner Leistungen ein Stipendium für begabte Kinder mit Migrationshintergrund.

freundschaften Unter den Geförderten war ich die einzige Realschülerin – soweit ich mich erinnern kann. Es gab noch einen Jungen, der auf einer Hauptschule war, aber ansonsten nur Gymnasiastinnen und Gymnasiasten. Da habe ich mich schon sehr minderwertig gefühlt. Nichtsdestoweniger habe ich hier erstmals engere Freundschaften geschlossen. Durch das Stipendienprogramm ist mir auch klar geworden, wie sehr individuelle Zukunftschancen durch die soziale Herkunft bedingt sind.

Der Besuch eines Gymnasiums blieb mir verwehrt.

Nachdem mir der Besuch eines Gymnasiums verwehrt geblieben war, absolvierte ich zunächst zwei Ausbildungen zur Fremdsprachenkorrespondentin, Übersetzerin und Dolmetscherin, mit denen ich schließlich in Großbritannien ein Masterstudium der Internationalen Beziehungen aufnehmen konnte. Das war möglich, weil meine zweite Ausbildung zur Übersetzerin dort als ein »Undergraduate Degree«, also in etwa ein Bachelor, anerkannt wurde.

Ein weiterer Grund für mein Engagement sind die unterschiedlichen Erwartungen, die an Kinder mit variierenden sozialen Hintergründen gestellt werden. Studien belegen immer wieder, dass Akademikereltern die Empfehlungen ihrer Kinder für weiterführende Schulen eher nach oben korrigieren. Bei Kindern mit nicht-akademischem Hintergrund ist es anders, weil die Eltern fürchten, dass sie ihr Kind auf einem Gymnasium nicht ausreichend unterstützen können.

Deswegen ist eine stärkere individuelle Förderung unerlässlich, auch im Erwachsenenalter. Diese wollen wir bei »Netzwerk Chancen« ermöglichen. Die Aufnahme in das Programm setzt keine Kriterien wie einen bestimmten Notendurchschnitt voraus, stattdessen richtet es sich explizit an Personen aus sozioökonomisch benachteiligten Verhältnissen.

Wir erleben oft, dass ein Migrationshintergrund automatisch mit sozialer Benachteiligung gleichgesetzt wird. Manchmal haben wir Bewerberinnen und Bewerber, die einen Migrationshintergrund haben, jedoch aus einem Akademikerhaushalt kommen und in finanziell stabilen Verhältnissen aufgewachsen sind. Auch wenn persönliche oder familiäre Migrationserfahrung ein wichtiges Diversitätskriterium ist, stellt es kein Kriterium für die Aufnahme ins Förderprogramm dar.

HERKUNFT Bei uns geht es wirklich um die soziale Herkunft der Bewerberinnen und Bewerber. Neben der zielgerichteten Unterstützung ist es uns sehr wichtig, dass die Geförderten ihre Stärken erkennen und an sich glauben. Ich habe selbst erlebt, wie ausschlaggebend das sein kann. Nachdem ich beruflich zunächst im Non-Profit-Bereich tätig war, wagte ich mich schließlich in die Beratung.

Anfangs habe ich mir keine Karriere im Consulting zugetraut. Es kam mir wie eine Traumwelt vor, und ich dachte, ich hätte gar keine Chance.

Anfangs habe ich mir keine Karriere im Consulting zugetraut. Es kam mir wie eine Traumwelt vor, und ich dachte, ich hätte gar keine Chance. Aber aufgrund meiner vorhandenen Erfahrung konnte ich schlussendlich zwischen drei Vertragsangeboten auswählen. Heute arbeite ich als Managerin bei einer der größten Beratungen der Welt.

Auf die Frage, was sich auf gesellschaftlicher und politischer Ebene ändern muss, um mehr Chancengleichheit zu gewährleisten, habe ich eine klare Antwort. Wir brauchen ein besseres Angebot frühkindlicher Fördermöglichkeiten in Kitas und Ganztagsschulen. Außerdem brauchen wir Gemeinschaftsschulen mit individueller Förderung anstelle von Haupt-, Realschulen und Gymnasien. Es ist absurd, dass nach der vierten beziehungsweise sechsten Klasse entschieden wird, welche Zukunftschancen jedes Kind in Deutschland hat.

BERUFSBERATUNG Darüber hinaus muss es die Option einer staatlich angebotenen Berufsberatung geben, die sowohl persönliche Stärken und Talente als auch die Ambitionen und Träume der Schülerinnen und Schüler miteinbezieht. Für sozial benachteiligte junge Erwachsene in der (Hochschul-)Ausbildung, die in teuren Großstädten leben, sind außerdem höhere BAföG-Sätze unerlässlich.

Gegenwärtig reichen die Fördersummen aufgrund der hohen Großstadtmieten kaum zur Sicherung der materiellen Grundbedürfnisse. Da neben dem Studium auch fachbezogene Praktika eine wichtige Voraussetzung für einen erfolgreichen Start ins Berufsleben sind, müssen diese mit mindestens vierstelligen Beträgen entlohnt werden. Personen aus finanzschwachen Verhältnissen können ihre laufenden Kosten sonst nicht begleichen.

Neben den Verbesserungen der Rahmenbedingungen im Bildungssystem streben wir als »Netzwerk Chancen« auch die Aufnahme der sozialen Herkunft in das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) an. Dieses besagt, dass niemand aufgrund von Geschlecht, Religion, ethnischer Abstammung, sexueller Orientierung, Alter oder einer Behinderung benachteiligt oder gar diskriminiert werden darf. Mit Blick auf die Vorstände deutscher Unternehmen wird immer bemängelt, dass dort vor allem weiße Männer vertreten sind. Das ist ja auch zutreffend, aber die soziale Herkunft ist auf den ersten Blick nicht erkennbar.

BEWUSSTSEIN Dabei zeigen Studien, dass die überwiegende Mehrheit der CEOs großer deutscher Unternehmen aus privilegierten Verhältnissen stammt. Es geht somit darum, ein Bewusstsein für die soziale Herkunft als Diversitätsmerkmal zu schaffen. Die Aufnahme dieses Kriteriums in das AGG hätte zunächst vor allem einen wichtigen Symbolwert, da es üblicherweise schwierig ist, Benachteiligung im Bewerbungsprozess nachzuweisen. Dennoch ist es ein großer Schritt hin zum ideellen Ziel der Chancengleichheit.

Mein eigener beruflicher Werdegang war von vielen Hürden geprägt. Ich möchte diese wirksam für kommende Generationen abbauen. Mir geht es darum, dass auch Menschen aus unteren sozialen Schichten es bis ganz nach oben schaffen können – deshalb arbeite ich ehrenamtlich einige Stunden in der Woche mit.

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