Porträt

»Hier tickt alles langsamer«

»Mein Vater wollte nie einen Fuß nach Deutschland setzen – nun hat er uns zum ersten Mal besucht«: Sharon Kotkovsky (34) Foto: Uwe Steinert

Ich bin im Winter 2016 nach Deutschland gekommen. Es war kalt und ungemütlich. Kalt zumindest für eine Israelin aus Tel Aviv, die es gewohnt ist, fast das ganze Jahr Sonnenstrahlen zu tanken und den heimatlichen Strand zu genießen. Aber ich bin der Liebe wegen hierhergekommen, und deshalb war mir auch in Potsdam von Anfang an warm genug. Im April 2016 haben Daniel, der in Potsdam geboren und aufgewachsen ist, und ich geheiratet.

Jetzt lerne ich seine Stadt und ihre Menschen kennen, mit jedem Tag ein Stück mehr. Für jemanden, der das pulsierende, energetische und manchmal auch hektische Leben in Tel Aviv sehr mag, ist die Umstellung gar nicht so einfach. Oft habe ich das Gefühl, hier an der Havel tickt alles ein bisschen langsamer. Das ist kein Nachteil, aber man muss sich daran gewöhnen können.

Sehr froh bin ich darüber, dass es mir gelungen ist, schon ein paar künstlerische Wege in der Stadt erschlossen zu haben. Ich mag die Potsdamer Schlossparks, die Alleen, Cafés und Museen, aber ganz besonders mag ich das Hans Otto Theater. Hier konnte ich, zusammen mit Flüchtlingen und Auswanderern verschiedenster Herkunftsländer, im Frühjahr das hochaktuelle, sehr politische Stück Gehen und Bleiben von Maxi Obexer spielen.

Heimat Das Besondere war: Alle Mitwirkenden auf der Bühne hatten tatsächlich ihre Heimat verlassen – Syrien, Mazedonien, Frankreich, Russland, den Iran, Israel. Alle bekamen »on stage« Gelegenheit, ihre persönlichen Erfahrungen in eigenen Texten zu artikulieren. Wir alle, die aus so unterschiedlichen Kulturkreisen stammen, sind uns dabei erstaunlich nahegekommen, und sämtliche Vorstellungen liefen vor gefüllten Rängen.

Schade nur, dass Gehen und Bleiben nicht noch etwas länger auf dem Spielplan bleiben konnte. Inzwischen arbeite ich an einigen weiteren Theaterprojekten mit, die, wie ich denke, auch gute Chancen haben, Brücken in die deutsche Gesellschaft zu schlagen und mehr Verständnis füreinander zu wecken. In Berlin bin ich beispielsweise beim interkulturellen Projekt »Poetic Hafla« dabei. »Hafla« kommt aus dem Arabischen und bedeutet so viel wie »Party«.

»Poetische Partys« veranstalten wir einmal im Monat, und jedes Mal wechseln wir an einen anderen Ort in der Hauptstadt. Lyriker, Musiker, Schauspieler – alle sind vertreten und präsentieren ihre Beiträge jeweils in der eigenen Sprache. Das gibt dann ein richtig buntes Durcheinander, und niemand kann alles verstehen, aber das Publikum nimmt ganz unterschiedliche Botschaften, Eindrücke und Stimmungen auf. »Poetic Hafla« ist schon eine geniale Idee.

multikultur In Potsdam spiele ich sehr gern im nichtkommerziellen Theater-Projekt »Karawanserei« mit. Die »Karawanserei« ist ursprünglich aus einer Initiative mit Flüchtlingen entstanden. Auch sie bringt Menschen verschiedenster Nationen zusammen, in diesem Fall Mädchen und Frauen. Auch dort geht es nicht nur um Begeisterung auf der Bühne und im Saal, sondern ebenso um Toleranz, Freundschaft und Respekt. Manche empfinden die »Karawanserei« fast wie ein zweites Zuhause, andere wie einen geschützten Raum.

Mein eigenes Faible für Kultur – und eben auch Multikultur – ist, denke ich, kein Zufall, denn mein ganzes bisheriges Leben hatte ich viel mit Kunst, Theater und Journalismus zu tun. Da habe ich wohl einiges von meinen Eltern geerbt.

Mein Vater war lange Zeit Fotograf beim israelischen Fernsehen, aber er arbeitet auch als Maler und Bildhauer. Mutter hat jahrelang eine Judaica-Galerie geführt und ist ebenfalls sehr kreativ. In meiner Kindheit und Jugend in Jerusalem habe ich leidenschaftlich gern und viel getanzt, aber das hat meinen Knien auf die Dauer nicht gutgetan, und irgendwann musste ich damit aufhören. In Jerusalem habe ich nach Abitur und Armee meinen Bachelor in Theaterwissenschaften und Philosophie gemacht.

Es war eine sehr schöne und inspirierende Zeit an der Hebräischen Universität, aber danach drängte es mich nach Tel Aviv, die Stadt mit ihren wunderbaren Kontrasten zu traditioneller Enge und Befangenheit. Dort habe ich mit Begeisterung Theaterregie studiert, und natürlich war ich auch bei den Studentenprotesten 2011 dabei. Dann habe ich Erfahrungen als Journalistin und Programm-Managerin sammeln können, und schließlich bin ich bei »Haaretz« gelandet. Hier gab es viele spannende Herausforderungen, unter anderem konnte ich die jährlichen Friedenskonferenzen der Tageszeitung mitorganisieren.

entscheidung Irgendwann in dieser Zeit traf ich Daniel, den Grafikdesigner aus Potsdam, der gerade ein Praktikum in Tel Aviv absolvierte, und alles wurde wieder ganz anders. Anders schön. Ein halbes Jahr lang hatten wir Zeit, uns kennenzulernen, dann reisten wir regelmäßig zwischen Tel Aviv und Potsdam hin und her, und schließlich war klar: Wir wollen zusammenleben und uns eine Zukunft aufbauen. In meiner Familie und im Freundeskreis gab es darauf die unterschiedlichsten Reaktionen, aber die meisten unterstützten mich und wünschten mir Glück. Emotional war ich mir ganz sicher, das Richtige zu tun. Rein rationale Erwägungen hätten auch zu einem anderen Ergebnis führen können. Denn schließlich verließ ich mein geliebtes Tel Aviv, einen attraktiven Job, eine wunderschöne Wohnung nahe dem Strand, ein Netzwerk von Freunden und noch so einiges mehr. Dafür landete ich in einer Welt, die mir fast völlig fremd war.

Zugegeben, auch vor meiner Begegnung mit Daniel hatte ich Deutschland schon bereist. Aber was sind schon ein paar Wochen Tourismus gegen eine Entscheidung auf Dauer? Und dann ist da noch der große Schatten der Geschichte. Mein Großvater väterlicherseits hat den Holocaust in Frankreich nur mit viel Glück überlebt, weil er noch rechtzeitig in einem Kloster versteckt werden konnte. Er ist nun vor einigen Jahren in Israel verstorben, und ich habe keinen blassen Schimmer, wie er meine Entscheidung wohl kommentiert hätte. Selbst mein Vater hatte sich einst geschworen, niemals einen Fuß nach Deutschland zu setzen. Vor wenigen Wochen hat er diese Ankündigung revidiert und uns hier zum ersten Mal besucht.

Begegnungen Als ich in Deutschland ankam, befand sich das Land in sehr bewegten Zeiten. Denn ich traf fast zeitgleich mit vielen Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan ein, die einfach der Hölle von Verfolgung und Bürgerkrieg entflohen waren. Mit einigen von ihnen saß ich anschließend im gleichen Deutschkurs, und es ergaben sich erstaunlich freundliche und offene Gespräche. Einige andere Kursteilnehmer wollten mit mir, der Israelin, aber auch kein einziges Wort wechseln. Sonst habe ich in Potsdam keinen Antisemitismus erfahren, auch Rassismus scheint hier verpönt und die Zivilgesellschaft stark zu sein.

Im ersten Winter, den ich hier erlebt habe, versuchte sich einige Wochen lang, immer mittwochs, eine sogenannte »Pogida«-Bewegung zu etablieren. Daniel und ich haben uns des Öfteren den Gegenkundgebungen angeschlossen. Das war ein wirklich gutes Gefühl. Irgendwann hörte der Spuk wieder auf.

Ich habe den Eindruck, dass die Stadt sehr viel investiert, um den Flüchtlingen eine rasche, erfolgreiche Eingliederung zu ermöglichen. Ich denke, irgendwann wird sie dafür auch Positives zurückbekommen.

hürden Für mich gibt es nun noch einige Hürden zu nehmen, um hier in Potsdam so richtig anzukommen. Mein Deutsch verbessert sich zusehends, aber ich bin ungeduldig und möchte die Sprache eigentlich noch viel schneller lernen. Und ich möchte, langfristig gesehen, wieder professionell Theater spielen, Theaterregie führen und vielleicht auch journalistisch arbeiten. Bis dahin ist es sicher noch ein ganzes Stück Weg.

Natürlich interessiert mich auch, wer sonst noch mit jüdischem Hintergrund in Potsdam lebt. Es gibt verschiedene kleine jüdische Gemeinden, eine von ihnen habe ich auch schon besucht. Die meiste Zeit wird dort allerdings Russisch gesprochen, und damit fehlt mir natürlich der Anschluss. Manchmal fragen mich Freunde und Verwandte, wie es denn mit Heimweh sei. Natürlich gibt es das. Aber ein wunderbares »Schmerzmittel« dagegen sind regelmäßige Reisen nach Tel Aviv.

Die werde ich in nächster Zeit allerdings etwas einschränken müssen, denn im November erwarten Daniel und ich erst einmal unser erstes Kind.

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