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Portrait der Woche

»Helfen ist eine Mizwa«

»Ein großer Traum ist es, dass meine Kinder in Israel in Frieden leben können«: Eva Ehrlich (68) in ihrer Wahlheimat München Foto: Christian Rudnik

Portrait der Woche

»Helfen ist eine Mizwa«

Eva Ehrlich nutzt den Ruhestand für ehrenamtliches Engagement

von Gerhard Haase-Hindenberg  22.08.2016 18:27 Uhr

Seit Anfang des Jahres hat sich mein Alltag radikal verändert. Bis zu diesem Tag war ich berufstätig, obwohl ich das Rentenalter schon vor mehr als zwei Jahren erreicht habe. Mein Alltag war bis dahin im Wesentlichen durch Büroarbeit bestimmt: Morgens um sieben Uhr habe ich das Haus verlassen, und irgendwann am Nachmittag bin ich zurückgekommen. Dazwischen lag eine Tätigkeit als Teamassistentin in einem großen Industrieunternehmen. Damit verbunden war nicht nur ein stressiger Job am Standort mit dem Organisieren von Besprechungen, sondern auch zahlreiche Reisen. Trotzdem habe ich diese Arbeit unglaublich gerne gemacht.

Heute hingegen bestimmen ehrenamtliche Tätigkeiten meinen Alltag. Ich bin hier in München in verschiedenen Projekten involviert, und für die Organisation Arrival Aid begleite ich Flüchtlinge zur Anhörung beim Bundesamt für Migration. Außerdem bin ich für meine Gemeinde, die liberale Münchner Beth Shalom, in einer interreligiösen Dialoggruppe engagiert, die verschiedene Projekte mit unbegleiteten Flüchtlingen organisiert.

REntnerin Etwas, das mir sehr am Herzen liegt, ist das ehrenamtliche Engagement für den Verein Lichterkette. Damit habe ich erst jetzt als Rentnerin angefangen. Die Organisation wurde 1992 gegründet, als hier in Deutschland die ersten Flüchtlingsheime brannten. Vier Leute hatten damals zu einer Lichterkette aufgerufen, und 400.000 Menschen aus München und Umgebung sind diesem Aufruf gefolgt. Inzwischen unterstützt der Verein verschiedene Projekte, hauptsächlich im Bereich Bildung. Es werden Stipendien für Ausbildungen bezahlt.

Diese Projekte kommen sowohl Jugendlichen zugute als auch geflüchteten Menschen. Ich unterstütze die Geschäftsführerin im administrativen Bereich, organisiere zum Beispiel Veranstaltungen und Geberkonferenzen, die jedes Jahr stattfinden, wozu Stiftungen und Firmen eingeladen werden. Bei diesen Geberkonferenzen kommt immer viel Geld zusammen. Bei einem Projekt arbeite ich auch selbst sehr intensiv mit. Es heißt »Platz da in Bayern!«.

Es ist nämlich so, dass Bayern die strengsten Asylgesetze hat: Die Flüchtlinge müssen in diesen Sammelunterkünften bleiben, bis ihr Antrag bearbeitet ist. In anderen Bundesländern dürfen sie, wenn eine Wohnung gefunden wurde, dort einziehen. Das trägt unglaublich zur Integration bei, weil sie von der Anmeldung bis zur Mülltrennung viel Alltägliches lernen müssen. Das ist in Bayern nicht erlaubt. Dabei haben wir sehr viele Wohnungsangebote, etwa von älteren Herrschaften, die viel Platz haben und gern jemanden aufnehmen würden, der ihnen vielleicht im Haushalt zur Hand geht. Wir haben nun gemeinsam mit anderen Organisationen eine Initiative gestartet und verhandeln mit dem bayerischen Sozialministerium um eine Lockerung der Bestimmungen. Meine ehrenamtliche Tätigkeit macht mir Spaß, und ich betrachte sie als eine Mizwa.

geheimnis
Ich bin drei Jahre nach Kriegsende in Prag geboren. Meine Eltern waren beide Schoa-Überlebende. Meine Mutter hat Auschwitz überlebt und wurde in Bergen-Belsen befreit. Mein Vater war Zwangsarbeiter. In den 50er-Jahren gab es in der Tschechoslowakei die Prozesse gegen den ehemaligen KP-Generalsekretär Rudolf Slánský, der jüdischer Herkunft war. Die Propaganda, die diese Prozesse begleitete, führte zu einer starken Welle an Antisemitismus. Bis zu meinem sechsten Lebensjahr hatte ich gar keine Ahnung, was mit meiner Familie eigentlich los ist. Ich habe die Nummer am Arm meiner Mutter gesehen, aber ich habe mir darüber keine Gedanken gemacht.

Dann aber fuhren wir eines Tages im Sommer mit der Straßenbahn. Meine Mutter trug ein kurzärmliges Kleid, sodass man ihre Auschwitznummer sehen konnte. Da rief ihr ein Mann zu: »Dich hat man wohl vergessen zu vergasen, du Judensau!« Nach diesem Vorfall haben mich meine Eltern aufgeklärt. Sie sagten zu mir: »Bitte sag niemandem, dass wir Juden sind! Das darf niemand wissen! Es war eine schlimme Zeit, aber wir wollen darüber nicht sprechen.« Für ein sechsjähriges Kind ist das natürlich eine große Belastung, ein solches Geheimnis mit sich herumzutragen.

Meine Eltern lebten ihr Jüdischsein eher unauffällig und heimlich. Sie sind nicht in die Synagoge gegangen, haben sich höchstens zu Pessach in der Gemeinde Mazzot geholt. Zu Schabbat haben sie zu Hause Challa gebacken, und wir haben uns mit jüdischen Freunden getroffen. Es war damals in der Tschechoslowakei eine sehr schwierige Zeit für Juden.

Über ihre Erlebnisse während der Verfolgung haben meine Eltern nie mit mir gesprochen – erst sehr spät, als mein zweiter Mann David sehr behutsam nachfragte. Doch eigentlich wollte meine Mutter nichts davon erzählen, weil sie dann Albträume bekam und nicht schlafen konnte. Sie war die Einzige aus ihrer großen Familie, die zurückgekehrt ist. Meine Eltern haben nach der Schoa geheiratet. Sie hatten zuvor andere Ehepartner, die umgekommen sind.

Rabin Nach dem Abitur habe ich angefangen, in Prag zu studieren. Zu dieser Zeit war ich Wettkampfschwimmerin. Bei einem Turnier habe ich meinen ersten Mann kennengelernt, der aus Bayern war. 1968 habe ich ihn besucht, als die Warschauer-Pakt-Staaten in meine Heimat einmarschierten und den Prager Frühling zerstörten. Wir haben geheiratet, dann bin ich zurück nach Prag gefahren und ganz legal ausgereist. Seit dem Sommer 1969 lebe ich nun in München.

In zweiter Ehe war ich mit David Gall verheiratet. Er hatte viele Jahre in Israel gelebt, dort studiert und gearbeitet. Auch nach seiner Rückkehr nach Deutschland war er Israel noch immer sehr verbunden. So verfolgten wir beide mit großer Freude den Friedensprozess, der 1993 begann. Wir waren begeistert von der Aussicht, dass es zwei Staaten geben und endlich Frieden kommen würde. Doch dann saßen wir am 4. November 1995 zu Hause vor dem Fernseher, und plötzlich wurde die Nachricht eingeblendet, dass Yitzhak Rabin ermordet worden war. Wir waren beide total geschockt. Es war das Schlimmste passiert, was passieren konnte – ein Jude war von einem Juden ermordet worden.

Nachdem wir den ersten Schock überwunden hatten, recherchierten wir im Internet, fanden jedoch kaum etwas Seriöses – weder zum Friedensprozess noch zum Judentum noch irgendwelche Gebete oder Antworten auf religiöse Fragen. Stattdessen führten die Anfragen zu gut getarnten Neonazi-Seiten. Da hat David eine kleine Website erstellt mit einer Mail-Adresse.

Kurz darauf haben wir viele E-Mails erhalten von Menschen, die nach Informationen lechzten – Lehrer, Schüler, aber auch zahlreiche Journalisten. Also haben wir unsere Seite regelmäßig mit Beiträgen über das jüdische Leben gefüttert. Als Namen für unsere Domain wählten wir »haGalil«. Das steht sowohl für Galiläa, also jenen israelischen Landstrich, der Europa am nächsten liegt, als auch für uns. Denn David hieß ja mit Familiennamen Gall und somit war das auch noch ein kleines Wortspiel.

Im Jahr 2005 haben wir über den Streit um die dänischen Mohammed-Karikaturen berichtet und auch eine dieser Karikaturen veröffentlicht. Einige Tage später hat es einen Hackerangriff gegeben, und haGalil war aus dem Netz verschwunden. Glücklicherweise hatten wir Sicherungskopien angefertigt, aber es war dennoch sehr aufwendig, alles wiederherzustellen. Ein Professor für IT-Technik hat uns dabei geholfen. Er hat auch herausgefunden, dass der Hackerangriff aus Katar erfolgt war. Seit dem Tod von David im Juli 2014 führen meine Tochter Andrea, die in Tel Aviv lebt, und ich die gemeinsame Arbeit fort.

Frieden Ein großer Traum ist es, dass es für meine Tochter und meine Enkelkinder in Israel endlich Frieden geben wird. Ich träume davon, dass die Messerattacken aufhören, aber auch der Siedlungsbau. Dass es zwei Staaten nebeneinander gibt, die friedlich miteinander auskommen und ich beruhigt hier leben kann, weil es meinen Kindern gut geht. Aber leider gibt es auf palästinensischer Seite kein politisches Konzept, das die Existenz Israels anerkennt. So habe ich neben meinem Traum leider auch die Befürchtung, dass es für alles zu spät ist.

Meine eigene Zukunft sehe ich hier in Bayern, wo auch viele meiner Freunde leben. Zu ihnen gehört mein Rabbiner Tom Kucera, mit dem mich auch unsere gemeinsame tschechische Muttersprache verbindet. Dazu gehören aber auch andere wunderbare Menschen bei Beth Shalom.

Ich bin oft in Tel Aviv bei meinen Kindern, aber zum Leben ist mir Israel zu anstrengend, allein schon aufgrund des Klimas. Mein sehr persönlicher Traum wäre es, dass mein Mann David noch lebte. Aber dieser Traum wird leider nie mehr in Erfüllung gehen.

Aufgezeichnet von Gerhard Haase-Hindenberg.

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