Berlin

Haus der Herzen

Schlomi Zchwiraschwili betreut Kinder im Hotel Ku’Damm 101, die vor dem Krieg aus Odessa flüchteten. Foto: Stephan Pramme


Er läuft und läuft: 23.000 Schritte an einem Tag – das war bisher der Rekord bei Schlomi Zchwiraschwili. Meistens läuft er um die 16.000 Schritte im Hotel Ku’Damm 101, in dem derzeit Geflüchtete aus der Ukraine untergekommen sind. Der Hotelbetrieb im Ku’Damm 101 ist komplett eingestellt. Es ist Mittag, mitten in der Woche. »Schon acht Kilometer Laufen zeigt meine App an«, sagt er. Seine Schwester Bella bezeichnet ihn als Heimleiter, er hingegen würde seine Arbeit so beschreiben: »Ich bin hier, um den Menschen zu helfen.«

Kleine Jungen rennen durch das Foyer, sie sehen Schlomi und stoppen, um ihn zu begrüßen. »Hallo, wie geht es?«, fragt er auf Russisch und reicht ihnen die Hand. Sie stürmen sofort weiter. »Hier ist schon etwas los, denn die Kita hat Schließzeit«, sagt der 37-Jährige. In Berlin haben die Ferien begonnen. Die Kids sind nun immer im Hotel und würden für sehr viel Leben sorgen – aber auch viel Chaos schaffen, sagt er mit einem Schmunzeln.

Alles musste ganz schnell gehen – dank vieler helfender Hände gelang eine gute Vorbereitung.

Anfang März, unmittelbar nach Kriegsausbruch in der Ukraine, klingelte Schlomis Handy. »Wir müssen helfen, wir haben keine andere Wahl«, hieß es am anderen Ende. Rabbiner Yehuda Teichtal hatte einen Anruf aus Odessa erhalten, der Folgen hatte. Innerhalb weniger Sekunden bildete er sein Team. Schlomi und seine Schwester Bella waren sofort einverstanden. Allerdings bekam er doch einen leichten Schock, als er hörte, dass die Busse mit den Waisenkindern aus Odessa in zwei Tagen bereits ankommen würden.

Kleidung Doch alle packten mit an. Die rasch eingerichtete Annahmestelle für Kleidung und Lebensmittel war vor der Eröffnung schon voll. Zwei Etagen wurden ihnen am Anfang zur Verfügung gestellt, während die Hotelgäste in anderen Fluren untergebracht wurden. Ein Tag vor der Ankunft wurden die Räume für die Kinder und Betreuerinnen hergerichtet, in jedes Zimmer kamen Spielsachen und Kuscheltiere.

Dank vieler großartiger ›helping hands‹ und der enormen Unterstützung der Hotelbesitzer konnten wir alles zügig realisieren«, so Schlomi. »Als die Kinder und Jugendlichen aus dem Bus stiegen, war ich geflasht, denn vorher hatten sie zehn Tage im Keller gehockt und dann 56 Stunden im Bus gesessen.« So sahen sie dann auch aus – traurig und geschafft. Kaum waren sie auf die Zimmer verteilt, hieß es, dass der nächste Bus schon unterwegs sei. Der Rabbiner aus Odessa hatte noch einmal Rabbiner Teichtal um Hilfe gebeten.

Nun leben 360 Menschen, davon 180 Kinder, in dem Hotel. Zumindest bis Mitte August, denn dann müssen alle woanders untergebracht werden, da der Hotelbetrieb wiederaufgenommen werden soll.

Freundschaften »Wir geben uns alle Mühe, dass sie sich hier wohlfühlen«, sagt Schlomi. Was ihn besonders freut, ist, dass viele Freundschaften entstanden sind und die Atmosphäre gut ist. Sie hätten sich ja nicht gekannt, als sie hierherkamen. Und für den gelernten Hotelfachmann fing ebenfalls ein neuer Lebensabschnitt an.

Meistens kommt er gegen neun Uhr ins Hotel, da beten die jungen Männer noch, und die Frauen sind beim Frühstück. An der Rezeption gibt es An- und Abmeldungen, für die die Hotelangestellten zuständig sind. »Aber ich muss viel übersetzen, denn sie sprechen kein Russisch.« Und die Ukrainer nur selten Deutsch.

Dann fängt er mit dem Papierkram an. »Gefühlt bekommt jeder 100 Briefe von Behörden.« Deshalb wurde auch ein Sozialarbeiter eingestellt, der sich um Anträge für Kindergeld oder Krankenversicherungen und ums Jobcenter kümmert.

Gespräche »Morgens denke ich öfter, dass es ein ruhiger Tag werden könnte – was bisher nie der Fall war.« Oft setzt er sich an die Bar im Foyer, um mit den Menschen zu sprechen und ihnen zu helfen. Dann bildet sich immer eine Schlange von Wartenden. »Die Gespräche sind sehr intensiv.« Jüngst wollte eine Frau seinen Rat, ob sie mit ihren Kindern zurückgehen sollte, denn ihr Ehemann vermisse sie so. Und die Kinder haben Sehnsucht nach ihrem Vater. »Da habe ich vorgeschlagen, ob er für ein paar Tage hier Urlaub machen könnte.«

Die Bewohner stehen unter einer hohen psychischen Belastung. Manche Frauen brechen in Tränen aus, weil ihre Männer an die Front geschickt wurden.

Eine andere Frau wiederum brach in Tränen aus, weil ihr Mann nun an die Front geschickt wird. Oft stapelt er die vielen Papiere, die ihm gezeigt werden, damit er deren Inhalt übersetzt, zückt sein Handy und organisiert die Termine.

Nun möchte er eine Stippvisite im Speisesaal machen. Im Fahrstuhl wird er freudig von zwei Mädchen begrüßt. Eine von ihnen hat heute Geburtstag. »Mazel Tov«, wünscht er ihr fröhlich. Vor den Tellern im Saal sitzen bereits Mütter und Betreuerinnen mit den Kindern. Aus einer milchigen Küche im Keller wurden in den ersten Wochen alle versorgt, doch mittlerweile gibt es auch eine fleischige Küche in einem anderen Haus.

mahlzeiten Der Grund: Die Küchen in dem Hotel sind nicht groß genug. Also wird in einem anderen Hotel, das gerade renoviert wird, ebenfalls gekocht. Immerhin müssen täglich drei Mahlzeiten für 360 Menschen zubereitet werden, weshalb etwa zehn Köche und ein Maschgiach im Einsatz sind. »Da muss ich natürlich auch viel erklären und übersetzen«, sagt Schlomi.

Eine kleine Synagoge wurde eingerichtet. Außerdem werden Yoga und Aerobic angeboten. Eine Tischtennisplatte steht im Außenbereich, und an heißen Tagen gibt es ein Planschbecken für Kleinkinder. »Es soll hier keine Langeweile entstehen, denn die macht depressiv.« Mittlerweile zeigt sich die jüdische Anwesenheit auch auf der Straße, denn die Jungs sind mit Kippot und Zizit unterwegs. In Begleitung eines Erwachsenen dürfen sie nach draußen, ab 16 Jahren auch allein.

Ein Junge kommt angelaufen und fragt Schlomi, was für ein Ausflug morgen anliegt. »Etwas Tolles«, sagt er grinsend auf Russisch. Dann auf Deutsch: »Ich habe noch keine richtige Idee.« Die Kinder waren bereits im Zoo, im Tierpark, auf dem Rummel und in mehreren Museen. Gleich werden sie von einem Bus vom 1. FC Union abgeholt, denn einmal die Woche wird mit ihnen im Stadion An der Alten Försterei trainiert. T-Shirts und Shorts haben sie von dem Sportklub schon bekommen.

Gutschein Auch die Nachbarn vom Ku’Damm 101 unterstützen die Flüchtlinge mit Gutscheinen, oder sie rufen an und fragen, was noch gebraucht wird. Schlomi muss wieder in den Keller. Ozzi, ein Mitarbeiter, schiebt einen leeren Wagen in den Aufzug. Er will Nachschub aus der Küche holen. Vergnügt unterhalten sie sich auf Englisch über ihre Arbeit, wie sinnvoll sie ist und warum sie ihnen Freude macht.

Der 1. FC Union trainiert mit den Kindern im Stadion An der Alten Försterei.

Wieder unten, sieht Schlomi, dass neue Flüchtlinge an der Rezeption warten. »Sie kommen aus einem anderen Hotel zu uns«, sagt er. Für die Chabad-Gemeinde Berlin sei das ein ganz schöner Kraftakt, auch finanziell. Denn der Kindergarten im Bildungszentrum müsse nun aufgestockt werden, ebenso die Jüdische Traditionsschule, damit genügend Willkommensklassen für die Kinder eröffnet werden können. Am späten Nachmittag, wenn für den Tag alles so weit erledigt ist, spaziert Schlomi nach Hause.

»Egal, was war, ich trinke erst einmal in Ruhe einen Kaffee, um abzuschalten.« Dann schaut er noch einmal in die Mails, ob etwas Wichtiges dabei ist. Oft trifft er sich mit Freunden oder seiner Familie. Und dann bittet er, weder über Politik noch über seine Arbeit diskutieren zu müssen. »Es ist wichtig, ein eigenes Leben zu haben.« Er weiß den Luxus zu schätzen, dass er nach Hause gehen kann. Denn die Flüchtlinge können es nicht – und wissen zum Teil nicht einmal, ob sie noch ein Zuhause haben.

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