Porträt der Woche

Glücklich im zweiten Leben

»Ich habe mein Judentum entdeckt und viele Freunde gefunden«: Dimitri Tukuser (67) Foto: Christine Schmitt

Porträt der Woche

Glücklich im zweiten Leben

Dimitri Tukuser war Schulsozialarbeiter. Heute engagiert er sich für seine Gemeinde

von Christine Schmitt  14.09.2022 11:35 Uhr

Rote Bete pflanze ich jedes Jahr wieder an – schließlich kommen meine Frau und ich aus Litauen, wo dieses Gemüse regelmäßig auf die Teller und in die Suppenschüssel kommt. Neben allen möglichen Johannisbeersträuchern, Weintrauben und Bäumen habe ich mittlerweile auch einen Stuhl im Garten. Aber nicht, um auf ihm Platz zu nehmen und mich von der Arbeit zu erholen, nein, ich brauche ihn, um ihn als Leiter zu nutzen, damit ich auch weiter oben Äste schneiden oder Kirschen oder Pflaumen pflücken kann.

An meinem 300 Quadratmeter großen Schrebergarten hänge ich sehr, und dennoch bin ich mir noch nicht sicher, ob ich ihn weiter pachten werde, wenn meine Frau und ich von Gifhorn wieder nach Braunschweig ziehen werden. Ihn aufgeben zu müssen, würde mir sehr weh tun. Diesen Umzug haben wir für die Zeit nach der Pensionierung meiner Frau ins Auge gefasst, da dort unsere beiden Kinder mit deren Familien leben.

UMZÜGE Mit Umzügen kenne ich mich aus. Ich musste mehrmals in Deutschland in einer neuen Stadt meine Zelte aufschlagen. 1991 sind meine Frau und ich aus Litauen in die Bundesrepublik eingereist. Mit dem Flugzeug flogen wir erst nach Warschau, von dort aus ging es mit dem Zug weiter nach Frankfurt (Oder), von wo uns ein Bekannter mit seinem Trabbi abholte.

Unsere Tochter war drei Jahre alt und meine Frau hochschwanger. Unsere erste Adresse war ein Übergangsheim für jüdische Flüchtlinge in Burgstall bei Magdeburg. Bis 1990 unterhielt dort die Bezirksverwaltung Magdeburg ein Ausbildungsobjekt des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR für den Umgang mit Schusswaffen. Ein mulmiges Gefühl … Dort, in den Wäldern der Colbitz-Letzlinger Heide, weit abgeschieden von der Außenwelt, blieben wir anderthalb Jahre. Der einzige Deutsche, zu dem wir in dieser Zeit Kontakt hatten, war der Hausmeister.

Ich begleitete damals meine Frau immer zur Frauenärztin. Dort in der Praxis fand ich ein Buch über Hilfe bei der Geburt. Da ich Deutsch lernen wollte, vertiefte ich mich in die Lektüre. Da lernte ich zwar viel über die Geburt, doch meine Deutschkenntnisse brachte es nicht entscheidend voran. Da halfen später die Sprachkurse. Nach dem Erhalt der Aufenthalts- und Arbeitsgenehmigung durften wir das Übergangsheim verlassen. So zogen wir in die Zivilisation um – in die nächste Großstadt, nach Magdeburg. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits meine 70-jährige Mutter aus Vilnius zu uns geholt. Und unser Sohn kam zur Welt. Wir waren eine Großfamilie geworden.

Einmal im Jahr reisen wir nach Frankreich zu
den Lavendelfeldern.

Ich überlegte, was ich machen könnte, um Geld zu verdienen, und dachte zunächst an eine Arbeit in der Pflege. Doch durch Zufall erfuhr ich, dass die Hochschule Magdeburg einen berufsbegleitenden Studiengang für Fachkräfte anbietet, die bereits über eine pädagogische Hochschulausbildung verfügten. Das traf bei mir zu. Denn in meiner Heimat hatte ich ein Studium abgeschlossen und als Russischlehrer gearbeitet. Die Examen wurden auch in Sachsen-Anhalt anerkannt.

Gleichzeitig interessierte mich die jüdische Gemeinde in Magdeburg – doch die Präsenztage meines Studiums waren Freitag und Samstag. Ich war erleichtert, dass der Rabbiner mir sagte, es sei meine primäre Aufgabe, mich um die Familie und somit um ein Einkommen zu kümmern. So konnte ich das Studium guten Gewissens absolvieren.

Nach fünf Jahren war es so weit: 2000 habe ich mein Studium mit dem Abschluss als Diplom-Sozialarbeiter erfolgreich beendet. Es gelang mir jedoch nicht, eine Arbeitsstelle vor Ort zu finden. So ließ ich meine Familie schweren Herzens in Magdeburg zurück und ging nach Siegen in Nordrhein-Westfalen. Dort hatte ich eine Stelle in einem Jugendtreff, in den hauptsächlich Kinder und Jugendliche aus russlanddeutschen Familien kamen. Ich arbeitete immer zehn Tage durch, um dann ein verlängertes Wochenende nach Magdeburg zu meiner Familie fahren zu können. In dieser Zeit habe ich mich intensiv mit der jüdischen Geschichte in Deutschland und Europa auseinandergesetzt, die mich sehr interessierte.

Nach anderthalb Jahren wechselte ich beruflich nach Wolfsburg, um für meine Kinder, für meine Familie da zu sein. Ich trat eine Stelle an, bei der ich dann bis zu meinem Renteneintritt blieb. Es handelte sich um die Sozialarbeit in Schul- und Jugendzentren in sogenannten Problemvierteln.

Wir wohnten damals schon in Braunschweig, und meine Frau und ich pendelten: sie nach Gifhorn, ich nach Wolfsburg. Als unsere Kinder ausgezogen und zum Studieren in andere Städte gegangen sind, zogen wir dann nach Gifhorn, wo meine Frau arbeitet. Nun erreicht sie ihr Büro zu Fuß, was heutzutage ein wahrer Luxus ist.

KENNENLERNEN Mitte der 90er lernte ich bei einer Tagung in Halberstadt das Judentum noch einmal von einer anderen Seite kennen. Bis dahin war mir eher das orthodoxe vertraut. Doch nun erlebte ich das liberale, was mir mehr zusagt.

2005 initiierte ich mit anderen Mitstreitern die Liberale Jüdische Gemeinde Wolfsburg – Region Braunschweig. Heute zählt sie 31 halachische Jüdinnen und Juden. Zweimal im Monat und an den Feiertagen haben wir zusammen Gottesdienste, zu denen ein Rabbiner, ein Kantor oder ein Laienkantor aus Magdeburg kommt.
Wir helfen auch freitags unseren Mitgliedern, zu Hause Schabbat zu feiern. Das hat uns zu Coronazeiten sehr geholfen. Es ist für uns nicht einfach, uns einerseits in die neue Gesellschaft und andererseits ins Judentum zu integrieren: das Judentum, das uns in der ehemaligen Sowjetunion vorenthalten wurde.

Hier in Deutschland konnte ich mit 36 Jahren noch einmal starten.

Die Gemeinde haben wir zwar für uns selbst gegründet, aber mit der Zeit haben wir verstanden, dass die Stadt Wolfsburg uns auch braucht. So sind wir Teil des interreligiösen Trialogs, ein aktiver Teil der Israel-Jacobson-Gesellschaft, und es wollen uns viele Schulklassen kennenlernen und besuchen. Wir ermöglichen den Kindern und Jugendlichen im Rahmen des Demokratieerlebnisprogramms »Betzavta – Miteinander« spannende und authentische Erfahrungen. Ebenso bieten wir allen Interessierten einen Diskussionskreis zur Modernen Haskala, Vorträge zur jüdischen Wohlfahrtspflege, Kunst und Kultur und modernes jüdisches Leben in der Diaspora sowie Projekttage »Schritte gegen Tritte« und »Vorfahrt für Vielfalt«. Für die kleinsten unserer Besucher bieten wir »Judentum aus der Zauberkiste«.

Unser Stolz ist unsere kleine Bibliothek. Mehr als 1200 Bücher und andere Medien zu den Themen Juden und Judentum, Belletristik jüdischer Autoren sowie jüdische Musik stehen bei uns im Regal. Und was uns besonders glücklich macht: Wir haben seit drei Jahren einen Aron Hakodesch und eine eigene Torarolle.

In den zurückliegenden 17 Jahren hat unsere Gemeinde in Zusammenarbeit mit anderen Schulen und Vereinen vier große und einige kleine Ausstellungen in Wolfsburg präsentiert. Im vergangenen Jahr haben wir zum vierten Mal in Wolfsburg einen Jüdischen Kulturherbst auf die Beine gestellt. Dabei haben uns der Zentralrat der Juden und andere Gemeinden unterstützt.

Die Veranstaltung ist eine schöne Tradition in Wolfsburg geworden, und unsere Besucher und Freunde fragen schon, was in diesem Jahr kommt. Diesmal werden uns zwei Themen begleiten: Janusz Korczak und der Krieg gegen die Ukraine. Dieser Krieg ist ein großer Schmerz in unserer Gemeinde, weil fast alle Mitglieder aus der Ukraine kommen.

Leider sind wir alle schon etwas älter. Es kommen keine Jüngeren nach, was ich sehr bedauere. Unsere Kinder gehen ihre eigenen Wege. Das ist bitter. Deshalb weiß ich nicht, wie lange es uns noch geben wird.
Wenn ich auf die letzten Jahrzehnte zurückschaue, dann kann ich sagen: Ich bin ein glücklicher Mensch. Hier in Deutschland konnte ich mit 36 Jahren noch einmal starten. Ich habe mein Judentum entdeckt und viele Freunde und Gleichgesinnte gefunden. So gesehen, lebe ich derzeit mein »zweites« Leben. Meine Kinder sind hier aufgewachsen, beide haben studiert und konnten gute Berufe ergreifen.

Und was soll ich sagen, es geht uns gut hier. Einmal im Jahr fahren wir nach Frankreich, wo uns die Lavendelfelder immer wieder aufs Neue begeistern – die Folge ist, dass es auch in unserem Garten viele lilafarbene Blüten gibt. Sie erinnern uns an unsere Liebe zu Burgund und der Provence.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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