Was bedeuten die Europäische Union (EU) und ihre demokratischen Institutionen jungen jüdischen Menschen in Deutschland? Welche politischen Ziele, Hoffnungen, aber auch Befürchtungen, verbinden die jungen Wahlberechtigten mit der bevorstehenden Abstimmung zum Europaparlament am 26. Mai? Diese Fragen standen im Zentrum eines Seminars der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) in Berlin. Zu der zweitägigen Veranstaltung Anfang Mai waren junge Erwachsene aus ganz Deutschland in die Bundeshauptstadt gekommen, um zusammen mit Referenten aus Politik, Wissenschaft und Medien über die Zukunft Europas zu diskutieren.
Mit dabei waren Kandidaten zum Europaparlament wie der jüdische Jurist Sergey Lagodinsky, der für die Grünen erstmals in die europäische Volksvertretung nach Brüssel und Straßburg einziehen will, sowie die Berliner SPD-Spitzenkandidatin Gaby Bischoff. Politikwissenschaftler wie Hajo Funke teilten mit den jungen Erwachsenen ihre Experteneinschätzung zum Thema Europa und EU und boten damit eine gute Grundlage für die anschließende Diskussion.
Die Debatte war kontrovers, aber stets fair. Ein Aspekt, der in den Workshops immer wieder zur Sprache kam und vielen Teilnehmern äußerst wichtig erschien, waren die in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten zu erwartenden Stimmengewinne für rechtspopulistische und europafeindliche Parteien. »Die Wahl zum Europaparlament ist aus meiner Sicht eine Schicksalsabstimmung«, sagte Michael Groys. Der 28-jährige Berliner hat Politikwissenschaften studiert und engagiert sich in der SPD. »Noch nie waren die Rechten europaweit so stark wie heute«, sagte Groys.
friedensprojekt Für ihn persönlich stehe die EU für ein einmaliges internationales Freundschafts- und Friedensprojekt, das es zu verteidigen gelte. »Ein starkes und vereintes Europa ist ein Garant für Demokratie und jüdisches Leben sowie gleichzeitig auch ein Bollwerk gegen Antisemitismus«, argumentierte er. Der junge Politikwissenschaftler plädierte für eine Allianz aller europäischen Demokraten gegen den gesellschaftlichen Rechtsruck. Von den Politikern in Deutschland wünsche er sich grundsätzlich mehr Einsatz für Europa. »Man muss den Menschen die vielen Vorteile, die die EU ihnen bringt, besser vermitteln«, erläuterte Groys.
Ob eine verbesserte Vermittlung die Begeisterung für Europa in der Bevölkerung nachhaltig steigern kann, wagte Nathan Peres zu bezweifeln. Der 37-jährige gebürtige Münchner war eigens aus Marseille nach Berlin gereist, um am Seminar teilzunehmen. Seit drei Jahren lebt Peres schon in Frankreich, wo er zurzeit an seiner Doktorarbeit im Fach Islamwissenschaften schreibt.
»In Deutschland ist in der Mehrheitsbevölkerung die Unterstützung für die EU deutlich stärker, als dies in Frankreich der Fall ist.« Nathan Peres
»In Deutschland ist in der Mehrheitsbevölkerung die Unterstützung für die EU deutlich stärker, als dies in Frankreich der Fall ist«, sagte Peres. Unter den Franzosen sei die Furcht vor zu mächtigen EU-Institutionen, die den Nationalstaat dominieren, sehr ausgeprägt. »Ich glaube, dass die EU als Projekt nur zu retten ist, wenn die Politik die Ressentiments der Menschen ernst nimmt«, sagte Peres. Die großen Volksparteien hätten zu kontroversen Fragen wie der Migrationsbewegung zu lange geschwiegen, was den Aufstieg von Parteien wie der AfD in Deutschland und Le Pens Rassemblement National in Frankreich befördert habe.
»In Frankreich haben wir einen gesellschaftlichen Diskurs, der auch von antisemitischen Untertönen geprägt ist«, sagt Peres. In dem jüdischen Kulturzentrum in Marseille, wo er neben seiner Doktorarbeit arbeitet, wurden die Scheiben bereits mehrfach eingeschlagen. »Es gibt in Frankreich Hass auf Juden und Israel«, so Peres. »Ich fürchte, dass es auch in Deutschland zu französischen Verhältnissen kommt, wenn man das Problem des eingewanderten Antisemitismus islamischer Couleur nicht ernsthaft angeht.«
brexit Ein weiteres Thema, das an den zwei Tagen für reichlich Diskussionsstoff sorgte, war der Brexit. So steht fest, dass die Briten auf jeden Fall an der Europawahl teilnehmen werden, da es die Politik in London nicht geschafft hat, den Brexit rechtzeitig zu vollziehen. Ob die gewählten britischen Volksvertreter ihre EU-Mandate allerdings auch antreten werden, ist derzeit noch ungewiss.
»Ich finde es absurd, dass die Briten jetzt an der Europawahl teilnehmen dürfen, obwohl sie schon längst raus sein sollten«, sagte Jason Hopkins. Der in Auckland in Neuseeland geborene 28-Jährige hat sowohl den neuseeländischen als auch den britischen Pass. Vor einigen Jahren ist er nach Deutschland gekommen, »um mal etwas anderes von der Welt zu sehen«, wie er sagt. Heute lebt er zusammen mit seiner Freundin bei Hamburg und arbeitet in einem Reisebüro.
Er nimmt das erste Mal an einem ZWST-Seminar teil. »Ich fand die Diskussionen überaus spannend und freue mich, dass so viele junge Leute im Herzen europäisch denken«, sagt Hopkins. Ob er als britischer Staatsbürger an der Europawahl teilnehmen wird, weiß er noch nicht. »Ich bin ein großer Fan von Europa und der EU, aber durch den Brexit hat Großbritannien seine Rolle in diesem historischen Staatenprojekt verspielt«, meint er.
»Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus sehe ich als große Herausforderungen für die EU.« Jason Hopkins
Das Problem hinter dem Brexit sei der wiedererstarkte Nationalismus im Vereinigten Königreich, den er auch in seiner Heimat Neuseeland wahrnimmt. »Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus sehe ich als große Herausforderungen für die EU«, so Hopkins. »Die Antwort der Europäer muss eine verbesserte Zusammenarbeit, mehr Offenheit und Toleranz sein.«
minderheit Mehr Zusammenarbeit und eine vertiefte Integration innerhalb der EU hält auch David Gießer für wichtig. »Als jüdische Minderheit sind wir auf eine starke EU angewiesen«, sagt Gießer, der aus Mainz nach Berlin angereist war. Dort studiert der 24-Jährige Politik und Jura. Im benachbarten Kaiserslautern leitet Gießer das Jugendzentrum der jüdischen Kultusgemeinde Rheinland-Pfalz.
»Wir Juden dürfen nicht auf die ganzen Europaskeptiker hereinfallen, die sich angeblich israelsolidarisch zeigen. Die Rechten wollen sich lediglich auf unsere Kosten profilieren.«
Um die Menschen in Europa stärker für die EU zu begeistern, müsse der Sozialstaat ausgebaut werden. »Die EU muss sich dafür einsetzen, dass in allen Mitgliedstaaten ein nationaler Mindestlohn eingeführt wird«, fordert Gießer.