9. November

Freund und Feind

Es sind so viele Juden (...) festzunehmen, als in den vorhandenen Hafträumen untergebracht werden können.» So lautete eine der Anweisungen, die zwischen dem 9. und 11. November 1938 per Funk an die Münchner Polizei gegeben wurden. Polizeibeamte trugen sie bei der Gedenkstunde zur sogenannten Reichskristallnacht im Alten Rathaus vor. Dort hatte am 9. November vor 72 Jahren NS-Propagandaminister Joseph Goebbels an exakt derselben Stelle eine maßlose Lawine des Hasses, des Wahns und des Terrors losgetreten, die sich über das gesamte Deutsche Reich erstreckte.

Polizeipräsident Wilhelm Schmidbauer skizzierte in seiner anschließenden Rede über «Die Münchner Polizei und die Pogromnacht» die Entwicklung vom Hitlerputsch 1929 bis zu jener Nacht.

Zukunftsweisend Bei der Münchner Polizei beschäftigen sich mittlerweile mehrere Mitarbeiter ehrenamtlich mit der Aufarbeitung der eigenen Geschichte. Dies ist, so Schmidbauer, «zugleich ein Blick nach vorn: Wer die Vergangenheit reflektiert, kann dabei lernen, auch sein heutiges Handeln kritisch zu hinterfragen. Es ist wichtig, sich als Polizist selbst bewusst zu machen, was damals geschehen ist, wie die Machtergreifung erfolgt ist, wie der Unrechtsstaat funktionierte und warum die Polizei die Menschenrechtsverletzungen nicht verhindert hat.»

Die Verpflichtung, «nie wieder Gewalt und Antisemitismus in der Stadtgesellschaft tatenlos hinzunehmen» unterstrich auch Oberbürgermeister Christian Ude. Er verwies auf die am 9. November enthüllte Gedenktafel für die beim Hitlerputsch 1923 getöteten Münchner Polizisten. Mit Blick auf die Rolle der Polizei während der NS-Zeit betonte Ude, dass auch die Stadtverwaltung und selbst der Städtetag in das Regime verstrickt waren. Einmal mehr sprach er auch das aktuelle Problem von Neonazi-Aufmärschen an, die seitens der Stadt nicht verhindert werden können. Es bleibe nur die Möglichkeit, dass die Bevölkerung zeige, dass diese unerwünscht sind. Das geschah dann auch am darauf folgenden Samstag durch die großen Beteiligung der Münchner an Gegenveranstaltungen.

Mut Dass nur die Hilfe couragierter Mitmenschen Verfolgten und Gefährdeten helfen kann, machte Präsidentin Charlotte Knobloch in einer sehr persönlichen und ergreifenden Rede deutlich: «Dass ich heute hier vor Ihnen stehe – ist ein Wunder.» Sie hatte versteckt unter falscher Identität überlebt. Heute habe sich Deutschland gewandelt. «Vor allem die Entwicklung der letzten 20 Jahre ist enorm. Die Bundesrepublik Deutschland wurde zum Zufluchtsort vieler Tausender jüdischer Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion.» Ihr Dank galt dabei auch der Polizei, nicht nur für das bewusste Aufarbeiten der Geschichte: «Ich bin froh, glücklich und vor allem sehr, sehr dankbar, dass wir Juden heute in den Beamten und Angestellten der Polizei – insbesondere hier in München – verlässliche Partner haben.»

Es war richtig, so die Präsidentin, nach 1945 in Deutschland zu bleiben: «Es war richtig, zu vertrauen – in dieses Land, seine Politik und seine Menschen.» Heute, so stellte sie fest, «ist das deutsche Judentum wieder erblüht.»

abläufe Die Gründungsdirektorin des NS-Dokumentationszentrums, Irmtrud Wojak, fasste die geschichtlichen Abläufe zusammen. Nach der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 «war klar: In Deutschland war für Juden kein Platz mehr – nicht einmal, um bloß zu überleben!» Sie schloss ihre Ausführungen mit dem Hinweis auf den damals 81-jährigen ersten Kantor der Münchner Hauptsynagoge, Emanuel Kirschner. Beim letzten Gottesdienst in der überfüllten Synagoge hatte er den 102. Psalm zitiert: «Herr, höre mein Gebet, und lass mein Schreien zu dir kommen! Verbirg dein Antlitz nicht vor mir in der Not.» Die Synagoge war bereits im Sommer 1938 abgerissen worden.

Für Wojak war dieser Psalm «eine Aufforderung, nicht bloß bei uns selbst zu verharren. Es gibt eine Grenze, wo wir nicht mehr mitmachen dürfen, sondern ›Nein‹ sagen müssen, wenn Unrecht geschieht.»

Rabbiner Steven E. Langnas trug zum Abschluss der Gedenkstunde den gesamten Psalm in hebräischer Sprache vor.

Esslingen

Antike Graffiti

Der Künstler Tuvia ben Avraham beschreibt das Judentum anhand uralter Buchstaben – und jeder darf mitmachen

von Valentin Schmid  09.12.2024

Berlin

Campus mit Kita und Café

Noch bis zum 10. Dezember können Architekten ihre Entwürfe für den Neubau an der Synagoge Fraenkelufer einreichen

von Christine Schmitt  09.12.2024

München

Mit Erfahrung zum Erfolg

Die Spieler des Schachklubs der IKG gehören zu den stärksten in Bayern – allen voran Leonid Volshanik

von Vivian Rosen  09.12.2024

Bundestag

Zentralrat der Juden schlägt Maßnahmen für Schutz jüdischen Lebens vor

Was der jüdische Dachverband von den Parteien mit Blick auf die Neuwahlen erwartet

 09.12.2024

Frankfurt

»Voll akzeptiert in der Gemeinde«

Rabbinerin Elisa Klapheck über das Jubiläum des Egalitären Minjans und das Konzept »Alle unter einem Dach«

von Ralf Balke  07.12.2024

Interview

»Damit ihr Schicksal nicht vergessen wird«

Die Schauspielerin Uschi Glas setzt sich für die Befreiung der israelischen Geiseln ein. Ein Gespräch über Menschlichkeit, Solidarität und Gegenwind

von Louis Lewitan  07.12.2024

Bedrohung

Wehrt euch!

Wie kann es sein, dass Juden wieder in Angst leben müssen? Wie kann es sein, dass Kippa zu tragen, gefährlich ist, während die Kufiya zum Fashion-Icon für Pseudo-Wokies wird? Ein Aufschrei

von Yaron Jacobs  07.12.2024

München-Schwabing

Ein Stück Hoffnung

Die Synagoge Shaʼarei Zion in der Georgenstraße erhielt eine neue Torarolle

von Luis Gruhler  07.12.2024

Porträt der Woche

Beamtin aus Leidenschaft

Diana Goldschmidt aus Hannover entdeckte als Schülerin ihr Interesse für öffentliche Aufgaben

von Gerhard Haase-Hindenberg  07.12.2024