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»Fremd, korrupt, peinlich«

Deutschland im Fußballfieber: Die Fans verfolgen begeistert die Spiele der Euro 2012 in Polen und der Ukraine. Mit besonderen Gefühlen schauen zahlreiche ukrainische Zuwanderer auf das Geschehen in Charkow, Donetsk, Kiew und Lviv. Es ist die alte Heimat vieler jüdischer Zuwanderer. Doch wie einige Mitglieder der Synagogen-Gemeine Köln erzählen, ist ihr Verhältnis zur Ukraine inzwischen recht ambivalent und für viele von ihnen inzwischen ein fremder Staat geworden.

Eine von ihnen ist Maria. Sie war ein Jahr alt, als ihre Familie aus Kiew nach Deutschland zog. Einen richtigen Kontakt pflegt sie zu ihrer dort verbliebenen Familie nicht. »Wir telefonieren nicht einmal.« Die Situation in der Ukraine interessiert die 14-Jährige aber trotzdem, regelmäßig halte sie sich auf dem Laufenden. »Ich sehe mich selbst schon als Ukrainerin«, äußert das Mädchen ein wenig schüchtern.

Distanz Ilana kann hingegen mit ihrer ursprünglichen Heimat Ukraine wenig an- fangen. Mit vier Jahren ist sie mit ihren Eltern von dort nach Deutschland gezogen. Wie Marias Familie leben sie in Köln. Seit dem Weggang war sie nicht mehr dort – und will es auch nicht. »Meine einzigen Bezugspersonen in der Ukraine sind meine Tante und ihre Familie und ein paar alte Freunde.« Die meisten seien aber wie sie ausgewandert – »entweder nach Israel, Amerika oder Deutschland«. Der Rest möchte, sobald es möglich ist, auch weg.

Ilana ist 17 Jahre alt und Madrich im Jugendzentrum, das sich gleich um die Ecke des angesagtesten Viertels Kölns befindet. Den Eingang zum Gemeindehaus, in dem sich das Jugendzentrum »Jachad« trifft, erkennt man von Weitem an der Polizeipräsenz. Passiert man die Kontrolle, führt eine Treppe hinunter in die Jachad-Räume. Laute Musik dröhnt aus den Boxen, und Kinder und Jugendliche zwischen sechs und 18 Jahren tanzen und toben durch die Gänge. An der kleinen Bar am Haupteingang werden Softdrinks verteilt.

Jugendarbeit Ilana ist dafür verantwortlich, auf jüngere Jugendzentrumsbesucher aufzupassen und ihnen ein Ansprechpartner zu sein. »Die Gesamtsituation in der Ukraine ist einfach nicht mehr vertretbar«, sagt sie ernst. »Wenn ich an dieses Land denke, habe ich nur betrunkene Menschen, Korruption und Polizei vor Augen, die die Menschen willkürlich einsperrt. Das waren auch Gründe, warum wir damals von dort weggezogen sind.«

Ihre Familie diskutiere häufig darüber, ob sich die Lage in dem Land am Schwarzen Meer verändert oder verschlechtert hat – und über die inhaftierte Julia Timoschenko. In Ilanas Familie ist man sich einig, dass ihr Prozess nur inszeniert sei, um den USA und Europa den Schein von Rechtstaatlichkeit vorzutäuschen.

Ebenso kritisch sieht der 18-jährige Ilja die Lage. »Das war kein richtiger Prozess. Es ist eigentlich schon peinlich für ein Land, seine ehemalige Ministerpräsidentin einzusperren. Es zeigt, wie unsouverän Regierung und Staat sind.« Vor allem die Menschenrechtssituation beschäftigt den 18-Jährigen. »Für mich ist die Ukraine ein semidemokratisches Land: Es versucht, den demokratischen Schein zu wahren, hält Menschenrechte nur zum Teil ein. Minderheiten dürfen nicht demonstrieren, die Behörden sind korrupt.«

Staatsangehörigkeit Seine Familie zog nach Deutschland, als er drei Jahre alt war. Er besitzt den ukrainischen und den deutschen Pass. Auch er hält sehr wenig Kontakt zur ehemaligen Heimat. Dort geblieben ist ebenfalls nur eine Tante. »Der Rest ist nach Deutschland, Australien oder Israel ausgereist«, erzählt er.

Ilja befürwortet das distanzierte Verhältnis Deutschlands zur Ukraine. »Kritik ist angebracht, aber ich finde es auch gut, dass die EM in der Ukraine stattfindet. Es ist eine Chance für sie, im wirtschaftlichen wie auch im politischen Sinne zu zeigen, wer man ist und dass man es besser machen kann. Hoffentlich nehmen sie die Kritik irgendwann zum Anlass, etwas zu verändern.«

Iljas Eltern sehen das ein wenig anders. Ihre Vorbehalte gegen die Regierung halten sich in Grenzen. »Sie sind eben in der Sowjetunion aufgewachsen und Kritik an einem Regime oder einer Regierung zu üben, sind sie nicht gewohnt«, gibt sich Ilja ihnen gegenüber zwar verständnisvoll, aber ein wenig enttäuscht. »Sie beharren auf dem Standpunkt, dass sich das Ausland nicht in die inneren Angelegenheiten des Landes einmischen darf.«

Scham Ganz anders steht es um Ilanas und Iljas Verhältnis zu Israel. Darüber informieren sie sich regelmäßig und sehr ausführlich. »Ich identifiziere mich mit Israel auch viel mehr«, sagt Ilana. »Ich identifiziere mich mit jedem Land in der Europäischen Union mehr als mit der Ukraine«, pflichtet Ilja ihr bei. »Ich möchte mit diesem Land nicht in Verbindung gebracht werden – weil es peinlich ist.«

In Israel haben die beiden Jugendlichen viele Verwandte. Das Verhältnis zu ihnen ist sehr gut. »Ich schätze und achte das Land sehr. Vor allem, weil es sich als demokratisches Land für Menschenrechte einsetzt. Ich fühle mich diesem Land sehr stark verbunden«, schwärmt Ilja.

Sie erinnern sich an die Jom Haazmaut-Feier, die sie in der Nachbarstadt Düsseldorf erlebten. Anlässlich des 64. Geburtstages Israels war die Altstadt gut besucht. Kleine und große Kinder, religiöse wie nichtreligiöse Juden und Nichtjuden schwangen kleine blau-weiße Fahnen. Vor den Ständen drängten sich Menschen, um sich über Land und Leute zu informieren.

Babi Jar Vladimir Nikolajwitsch Georgiyenko hat die Veranstaltung mit seiner Kamera festgehalten. Die laute Musik machte ihm zwar ein wenig zu schaffen, aber die Aufnahme hatte er einem guten Freund versprochen, und eigentlich macht ihm so etwas Spaß. In seiner Wohnung, nicht weit von der Altstadt entfernt, hängen viele Porträts und Collagen. Er wohnt hier mit seiner Frau. Vor allem Bilder von ihnen, Tochter und Enkel hängen an den Wänden. Auf einem der Bilder sieht man ihn bei Dreharbeiten in der Ukraine. Er war Filmregisseur, Drehbuchautor und einer der Ersten, der von einer sowjetischen Behörde Zugang zu den Archiven der Tragödie von Babi Jar bekam und die allererste Filmdokumentation über eines der grausamsten Kapitel jüdischen Leidens drehen durfte.

»Als Mensch, der viele Jahre so viel Energie in die Ukraine investiert hat, habe ich eine andere Wahrnehmung als andere«, sagt er in sehr düsterem Ton. Jeden Tag informiere er sich über die Vorkommnisse in der Ukraine. Er hält regelmäßigen Kontakt zu Leuten dort, fährt nach Kiew, guckt viel Fernsehen und liest stundenlang in allen möglichen Zeitungen, die er nur kriegen kann. »Ich bin sehr besorgt über die aktuellen Entwicklungen. Mein ganzer Kopf ist voller Gedanken.«

enttäuschung Fast sein gesamtes Leben hat der 70-Jährige in diesem Land verbracht. »Seine Entwicklung kann mir nicht egal sein. Ich weiß, welche Tragödie dem ukrainischen Volk im Zweiten Weltkrieg widerfuhr.« Aus seiner Stimme hört man die Enttäuschung über die heutige Situation deutlich heraus. »Ich stamme aus einer anderen Zeit. Jetzt ist das ganze Land voller korrupter Businessmänner, die um jeden Preis nur Geld machen wollen.«

Zum 70. Jubiläum von Babi Jar präsentierte Georgiyenko seine Arbeit in den jüdischen Gemeinden zu Berlin, Essen und Düsseldorf. Viele sprachen ihn daraufhin an und erzählten ihm, wer aus ihrer Familie beim Massaker von 1941 umgekommen sei. Es scheint, als hätte jeder in der jüdisch-ukrainischen Gemeinschaft sein eigenes persönliches Babi Jar in der Familie.

Vielleicht erklärt sich auch dadurch die Distanz ukrainischer Juden zu ihrer Herkunft – die bis in die Generation der Jugendlichen reicht. In den jüdischen Gemeinden fragte man Georgiyenko, ob er mit ihren Geschichten etwas anfangen könne oder vielleicht Interesse hätte, ein Buch zu schreiben. Doch er winkt ab. »Wer bin ich, so etwas leisten zu können?«, sagt er bedrückt.

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