Porträt der Woche

Fast wie zu Hause

»Über die Jahre wächst das Bedürfnis nach kultureller Identität«: Nirit Bialer (37) aus Berlin Foto: Uwe Steinert

Als ich 2006 nach Berlin zog, besuchte ich viele Partys. Ich habe schnell festgestellt, dass es einen Unterschied zwischen der deutschen und der israelischen Art zu feiern gibt: Bei den Israelis geht es viel direkter und offener zu, während Deutsche eher reservierter feiern und sich mehr in kleinen Gruppen aufhalten. Aus dieser Beobachtung heraus entstand die Idee zu »Habait«. Mit dem Projekt wollen wir das Lebensgefühl Israels vermitteln – gerade für Deutsche, die das Land nur aus den Nachrichten und das Judentum nur aus dem Geschichtsunterricht kennen.

Im Juni 2011 hatte die erste Habait-Veranstaltung Premiere: mit einem kleinen Konzert und einer Lesung von Markus Flohr, der über sein Leben in Israel schreibt.

Das Ganze fand im Dock 11 in Prenzlauer Berg statt – ein Aufkleber mit der Aufschrift Habait und unserem Logo, einem gezeichneten Klingelknopf, klebte am Eingang. Das ist unser Markenzeichen: Da wir kein wirkliches Haus haben, was eigentlich unser Traum wäre, machen wir unsere Veranstaltungsorte auf diese Weise für einen Abend zu einem Heim, einem Zuhause für uns und unsere Gäste. Denn genau das ist die Übersetzung von Habait: Zuhause.

veränderungen Schon fünf Jahre zuvor habe ich bei Kol Berlin mitmoderiert, einer deutsch-israelischen Radiosendung des Offenen Kanals; 2007 startete ich mit zwei Freundinnen einen Stammtisch für Israelis in Berlin. Zu der Zeit war Facebook noch keine Selbstverständlichkeit, sodass wir die Leute dafür wirklich zusammensuchen mussten. Heute geht man auf der Straße nur wenige Schritte, und schon hört man überall Hebräisch.

Die israelische Community in der Stadt hat sich sehr verändert – nicht nur, was ihre Größe angeht, sondern auch in ihrer Struktur. Als ich kam, waren die meisten anderen Israelis schon etwas älter und wegen eines Jobs oder einer Beziehung gekommen. Heute sind es vor allem die Jüngeren, die nach Berlin ziehen und erst einmal schauen, was sie hier machen wollen.

Aber auch die Stadt ist anders geworden: Vor zehn Jahren wäre es undenkbar gewesen, ohne Deutschkenntnisse etwa in einem Café zu arbeiten. Heute ist das Normalität. Gerade die Fußball-WM 2006 in Deutschland hat hier einiges bewirkt: Berlin hat sich geöffnet, und viele Zuzügler haben die Stadt so für sich entdeckt. Viele Israelis haben einen europäischen Pass und durch den Holocaust eine Verbindung zu Europa: Oft genug stammen die Großeltern von hier. Da diese Generation aber allmählich verschwindet, kann man es sich erlauben, den europäischen Pass auch zu nutzen.

Zudem macht es die große Zahl von Israelis in der Stadt Neuankömmlingen natürlich einfacher, da sich so ein sehr hilfreiches Netzwerk gebildet hat. Das beeinflusst auch Habait: Mittlerweile gibt es hier viel mehr Möglichkeiten, mit israelischer Kultur in Kontakt zu kommen. Als wir Habait starteten, war das noch ganz anders.

strand Zu Beginn waren wir etwa zu zehnt, Israelis und auch einige Deutsche, sodass wir Perspektiven aus beiden Kulturkreisen einbrachten. Uns war von Anfang an wichtig, dass wir keine politische Organisation sind – aber das ist leichter gesagt als getan, denn schon das Wort Israel bedeutet schnell, in eine politische Ecke gestellt zu werden.

Das merken wir jetzt auch bei der Tel Aviv-Jaffa Beach Party, die wir für den 30. August im Sage Beach in Kreuzberg organisieren: Als wir die Veranstaltung bei Facebook erstellten, dauerte es nicht lange, bis wir die ersten anti-israelischen Kommentare auf der Seite hatten. Das finde ich sehr traurig.

Man hat fast das Gefühl, wir müssten uns dafür entschuldigen, wo wir geboren sind, dabei wollen wir einfach eine offene Veranstaltung, bei der jeder willkommen ist, der ein Stück Strandgefühl von Tel Aviv kennenlernen möchte. Ich bin mir dennoch sicher, dass die Party sehr schön wird und viele Gäste kommen werden.

Allein bei Facebook haben schon über 1400 Menschen zugesagt – sie können sich auf Essen wie am Strand von Tel Aviv, Musik von stadtbekannten DJs wie Marion Cobretti, ein spezielles Programm für Kinder und sogar kostenlose Massagen freuen. Dazu gibt es Gratis-Flip-Flops für die ersten 500 Gäste.

identität Doch Habait organisiert nicht nur Partys, sondern auch Konzerte, Filmvorführungen und Lesungen. Zudem halte ich derzeit viele Vorträge in ganz Deutschland und erzähle etwa von mir als Israelin und Jüdin. Gerade außerhalb von Berlin herrscht da oft noch großes Unwissen. Vielen ist nicht bewusst, dass es einen Unterschied zwischen einer Israelin und einer jüdischen Israelin gibt. Auch verstehen viele nicht, wenn ich erzähle, dass ich säkular bin.

Jüdischsein ist für mich nicht nur Religion, sondern Kultur und Tradition. Allerdings verändert sich meine Perspektive, je länger ich in Deutschland lebe. Über die Jahre wächst das Bedürfnis nach kultureller Identität, sodass ich zum Beispiel zu Jom Kippur die Synagoge in der Rykestraße besuche. Dass das Judentum mehr zum Thema für mich wird, hätte mir auch in jedem anderen Land passieren können, aber in Deutschland ist es noch einmal anders.

Wenn ich zum Beispiel die in die Gehwege eingelassenen Stolpersteine sehe, dann macht das etwas mit mir: Ich frage mich, wie es damals war. Auch Besuche in der Synagoge berühren mich, weil ich überlege, was dieser Ort schon gesehen hat.

Viele Nichtjuden sind unsicher, wenn es etwa um den Besuch einer Synagoge geht. Diese Unsicherheit muss abgebaut werden, deswegen nehme ich oft auch nichtjüdische Freunde mit. Aufklärung ist wichtig, besonders außerhalb Berlins, denn die Stadt ist eine Insel.

Das gilt auch für die aktuelle Flüchtlingsdebatte: Viele Menschen haben Geflohene als Nachbarn, aber haben sie schon einmal versucht, in Kontakt mit ihnen zu treten? Für mich ist es das Gleiche mit den Juden.

Bed & Breakfast Mein Interesse an Deutschland begann schon als Teenager, auch wegen der Geschichte. 1993 begann ich, die Sprache zu lernen. Mit einem Jugendaustausch besuchte ich jedes Jahr Bremen. Daraus entstanden regelmäßige Kontakte. Meine Großeltern väterlicherseits waren Holocaust-Überlebende aus Polen. Sie starben, als ich noch sehr jung war, wären aber wahrscheinlich nicht so begeistert von meinem Interesse gewesen. So mussten sie sich allerdings nicht damit auseinandersetzen.

2006 bekam ich dann ein Jobangebot aus Berlin – schon vorher hatte ich Jugendprojekte zum Thema Erinnerungskultur in Israel geleitet. Bei meiner Abschiedsparty daheim verteilte ich Gutscheine an meine Freunde für »Bed & Breakfast bei Nirit«.

Viele sagten mir damals: »Viel Spaß, aber ich werde dich nicht besuchen« und fragten: »Was machst du bei den Nazis?« Heute hingegen werde ich bei Heimatbesuchen gefragt: »Was machst du hier? Berlin ist doch so toll.«

botschafter Wir Israelis in Berlin fühlen uns immer ein wenig wie Botschafter: Wir müssen mittragen, was in Israel passiert – egal, ob wir die jeweilige Regierung gewählt haben oder nicht. Lebt man als Israeli im Ausland, ist das ohnehin schwierig, denn für die Stimmabgabe müsste man nach Hause fliegen.

Dennoch lebe ich weiterhin gerne in Berlin, denn es passiert noch immer sehr viel, gerade in puncto deutsch-israelische Beziehungen. Vielleicht ist meine Arbeit ein kleiner Beitrag dazu.

Für Ende Oktober plant Habait zum Beispiel eine Fotoausstellung zu Porträts deutsch-israelischer Paare unter dem Titel »Bridges of Love«. Nun steht aber erst einmal die Tel Aviv-Jaffa Beach Party an. Seit Monaten sind wir mit der Planung beschäftigt und freuen uns nun über alle, die eine offene, lustige Feier erleben wollen. Ich bin mir sicher, dass die Party genau das werden wird.

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