Porträt der Woche

Europa für Anfänger

Noa Lerner betreut von Berlin aus amerikanische Touristen

von Tobias Kühn  25.08.2014 18:37 Uhr

»Ich bin die Geschäftsführerin – alles, was mit Geld zu tun hat, ist meine Aufgabe«: Noa Lerner Foto: Uwe Steinert

Noa Lerner betreut von Berlin aus amerikanische Touristen

von Tobias Kühn  25.08.2014 18:37 Uhr

Wer mich mehr als nur oberflächlich kennt, weiß, dass ich übergetreten bin. Ich verberge das nicht, aber ich finde es schwierig, eine Person darauf zu reduzieren. In bestimmten Situationen ist es immer leicht zu sagen: »Na ja, die ist eh übergetreten.«

Das gefällt mir nicht. Aber ich bin auch der Meinung, dass wir Konvertiten nicht vergessen dürfen, woher wir kommen. Es darf nie um einen schnellen Seitenwechsel gehen. Ich finde es sehr problematisch, wenn Leute sich nach kurzer Zeit nicht mehr daran erinnern, dass sie vor fünf Jahren noch gar nicht jüdisch waren und glauben, sie könnten jetzt das Judentum auslegen. Da sollte man sehr vorsichtig sein und sich lieber etwas zurückhalten.

Ich bin vor 14 Jahren in Berlin bei Rabbiner Rothschild übergetreten. Wir waren eine nette Gruppe von Leuten, mit denen ich mich auf den Giur vorbereitet habe. Mit einigen stehe ich bis heute in Kontakt – ich freue mich immer, wenn ich sie wiedersehe.

Der eigentliche Akt vor dem Beit Din war toll, wir hatten ein gutes, interessantes Gespräch. Die Rabbiner waren sehr freundlich und haben mich wirklich willkommen geheißen. Ich denke gern daran zurück, aber inzwischen spielt die Tatsache, mal übergetreten zu sein, keine so große Rolle mehr in meinem Leben.

Studium Geboren wurde ich 1965 in einem kleinen Ort in der Nähe von Düsseldorf. Meine Eltern haben mich katholisch erzogen, und nach dem Abitur habe ich in Münster Katholische Theologie studiert. Dem Judentum habe ich mich über viele Jahre hinweg ganz allmählich genähert. In den 80er-Jahren, als ich studierte, waren die Beziehungen der Kirchen zum Judentum ein großes Thema. Ich hatte Professoren, die sich im christlich-jüdischen Dialog engagierten.

Wichtig für meine Hinwendung zum Judentum war mein erster Arbeitsplatz nach dem Studium: die Alte Synagoge Essen. Nach ein paar Jahren wechselte ich ans Duisburger Steinheim-Institut und später nach Potsdam. Dort habe ich an der Uni im Institut für Jüdische Studien gearbeitet. Ganz allmählich tauchte ich immer tiefer ins Judentum ein. Aber der Gedanke, überzutreten, reifte erst in den 90er-Jahren. Es ging Schritt für Schritt, und irgendwann war die Entscheidung da.

Aber was macht man mit einem Abschluss als Diplom-Theologin, wenn man auf dem Weg ist, jüdisch zu werden? Ich konnte damit wenig anfangen. Also entschied ich mich Ende der 90er-Jahre für eine Fortbildung im Multimediabereich und ging ein Jahr lang in Berlin auf eine Schule für Internet und Internetdesign.

Experiment Nach dieser Fortbildung habe ich mit einer Bekannten herumexperimentiert: Sie ist Journalistin und erzählte, dass sie in London war, und es gebe da eine tolle Website zum jüdischen Leben in der Stadt – das war damals etwas ganz Neues. Wir sagten uns: Das könnten wir doch für Berlin machen. Also bauten wir eine Webseite. Wir nannten sie »Milch und Honig« und stellten dar, was es an jüdischen Einrichtungen und Orten in Berlin gibt: Geschäfte, Synagogen, Galerien – eine Art Adressbuch mit kleinen Texten dazu.

Das Ganze hat ein paar Jahre bestanden und ist dann eingeschlafen. Aber bald bekamen wir E-Mails von Juden aus Amerika. Sie schrieben: »Wir kommen nach Berlin. Was kann man da Jüdisches sehen?« Wir haben ihnen geantwortet – aber irgendwann fingen sie an zu fragen: »Könnt ihr uns auch durch die Stadt führen?« Eigentlich hatten wir keine Zeit – aber es kamen immer mehr Anfragen aus Amerika. Da dachten wir: Vielleicht lohnt es sich, ein Konzept zu entwickeln.

So haben wir Ende 2002 zu dritt, mit einer weiteren Bekannten, angefangen, jüdische Stadtspaziergänge durch Berlin anzubieten – auf Englisch. Langsam verstanden wir, dass es sinnvoll wäre, wenn wir auch unsere Webseite ins Englische übersetzen, und dann kam auch der Name »Milk and Honey« ins Spiel. Aber es dauerte noch zwei Jahre, bis wir auch unsere kleine Firma »Milk and Honey Tours« nannten.

Als dann 2002 mein Sohn Lior geboren wurde, brauchte ich Leute, die unsere Stadtspaziergänge machten, denn mit einem Baby war das schwierig. Also wurden weitere Personen miteinbezogen. Drei, vier Jahre haben wir die Touren nur in Berlin angeboten, dann fingen die Amerikaner an zu fragen, ob wir sie denn auch durchs jüdische Wien oder andere Städte führen könnten.

Also reisten wir nach Wien – und merkten, dass es dort kein Unternehmen gibt, das geführte Touren auf jüdischen Spuren anbietet. Wir suchten dann dort Leute, die das für uns machen könnten. Der nächste Ort war Riga, und so ging es weiter – heute sind es mehr als 50 Städte. Wir legen Wert darauf, nur dort Touren anzubieten, wo es auch eine jüdische Gemeinde gibt. Denn wir wollen Europa nicht als jüdischen Friedhof zeigen – unsere Kunden sollen sehen, dass auch heute Juden hier leben, wenn auch zum Teil unter schwierigen Bedingungen.

Inzwischen ist unsere Firma eine GmbH. Das Büro haben wir in Friedenau. Ich bin die Geschäftsführerin – alles, was mit Geld zu tun hat, ist meine Aufgabe. Dann gibt es zwei Angestellte, die sich um die Tourbuchungen kümmern. Und natürlich ist da noch die Guidetrainerin. Sie vermittelt den Tourguides die Techniken, auf die es uns ankommt. Alle sind Freiberufler. Mittlerweile arbeiten wir mit mehr als 200 von ihnen in ganz Europa zusammen.

Hund Ich stehe jeden Tag um 6.30 Uhr auf. Zuerst führe ich meinen Hund aus: Wir gehen einmal um den Block – zehn Minuten. Dann frühstücke ich mit meinem Sohn und bringe ihn zur Schule. Manchmal arbeite ich dann von zu Hause aus, aber an anderen Tagen fahre ich auch ins Büro. Oft habe ich einen recht nüchternen Alltag am Schreibtisch.

Am Nachmittag hole ich dann meinen Sohn ab, schaue mir mit ihm die Hausaufgaben an, und manchmal lernen wir für eine Klassenarbeit. Mein Sohn geht auf eine nichtjüdische Schule. Weil es dort keinen Religionsunterricht gibt, kommt einmal in der Woche ein junger Lehrer zu uns nach Hause und unterrichtet ihn.

Abends setze ich mich dann noch einmal an die Arbeit. Wenn es ruhig ist, erledige ich oft Dinge, bei denen man sich konzentrieren muss, etwa Überweisungen.

Hin und wieder reise ich dienstlich auch selbst einmal in eine Stadt, in der wir Touren anbieten. Aber länger als ein, zwei Tage kann ich nicht bleiben, denn ich muss ja meinen Sohn versorgen. Diese Arbeitstage auf Reisen sind besonders anstrengend. Ich sitze dann eben nicht in Marseille am Hafen und trinke Kaffee, sondern hetze von einem Termin zum anderen. Am Ende eines solchen Tages denke ich manchmal: Nie wieder verreisen!

Doch eigentlich zieht es mich durchaus in die Ferne. Manchmal plane ich einen Urlaub und suche verzweifelt einen Ort, an dem ich nichts Jüdisches finde, weil ich wirklich mal Urlaub machen möchte – aber es hat noch nie funktioniert.

Neben meiner Firma habe ich noch ein Projekt, das allerdings die meiste Zeit in der Schublade liegt: Ich sitze an einer Doktorarbeit. Ich habe Material gesammelt und jemanden gefunden, der das Projekt betreuen würde, und ab und zu schreibe ich auch eine Seite. Das Thema bleibt vorerst geheim, denn ich möchte nicht, dass es mir jemand wegschnappt – ich komme ja nur langsam voran. Aber eines Tages, wenn Milk and Honey Tours so groß ist, dass ich nicht mehr dafür arbeiten muss, dann wird die Doktorarbeit fertig.

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