Zeitzeugen-Interview

»Es fängt mit Abneigung an und endet in der Gaskammer«

Leon Weintraub Foto: picture alliance/dpa

Leon Weintraub (97) überlebte den Holocaust. Als einer der letzten Zeitzeugen spricht er seit Jahren bei Begegnungsveranstaltungen mit Schülern über sein Schicksal. Der aus einer jüdischen Familie im polnischen Lodz stammende Weintraub überlebte das Ghetto Litzmannstadt und danach mehrere Konzentrationslager, darunter Auschwitz-Birkenau und Flossenbürg. Im Interview spricht Weintraub über Lehren aus seinen schrecklichen Erfahrungen.

Herr Weintraub, empfinden Sie heute gegenüber den Tätern Hass?

Ich habe dieses Wort aus meinem Wortschatz gestrichen.

Können Sie den Nazis vergeben?

Nein. Vergeben, Verzeihen und Entschuldigen kommt für mich nicht infrage, das ist undenkbar! Man kann diese in der Weltgeschichte einmaligen Untaten der Nazis nicht verzeihen oder vergeben.

Sie haben ein Buch geschrieben mit dem Titel »Die Versöhnung mit dem Bösen«. Was ist Ihrer Erfahrung nach das Böse?

Es gibt einfach böse Menschen, die meinen, über anderen zu stehen und sich das Recht nehmen, sie zu unterdrücken, wenn sie andere Ansichten, eine andere Hautfarbe oder Religion haben. Es fängt mit der Abneigung gegenüber anderen Menschen an. Und es endet in der Gaskammer.

Wie beurteilen Sie das Erstarken von rechten Bewegungen in vielen Ländern Europas?

Es ist traurig, dass so etwas zugelassen wird und die Demokratien sich nicht stärker dagegen wehren und dies unterbinden. Denn das sind ja Menschenfeinde.

»Wenn Sie heute bei der Arbeit sehr beschäftigt sind und in der Mittagszeit keine Zeit für einen Imbiss haben, glauben Sie vielleicht gegen Abend, dass Sie furchtbar Hunger haben. Aber das ist kein Hunger.«

Wenn Sie heute auf den Krieg Russlands gegen die Ukraine blicken, sehen Sie dann Parallelen zur NS-Zeit?

Ja, es gibt deutliche Parallelen zur Nazizeit. Für uns Zeitzeugen ist es unfassbar, dass heute in der Ukraine ähnliche Dinge geschehen - etwa Kinder geraubt und russifiziert werden oder ukrainische Soldaten enthauptet werden.

Sie haben mehrere Konzentrationslager überstanden, darunter Auschwitz und Flossenbürg. Mit welcher Haltung kann man solche schlimmen Zeiten überleben?

Es gibt kein Rezept oder eine Anleitung, wie das geht. Das geschieht auch nicht bewusst, es ist manchmal einfach Glückssache. Keiner konnte sein Schicksal beeinflussen. Ich hatte ein Quäntchen Glück.

Nachdem sie zunächst ab 1939 im berüchtigten Ghetto Litzmannstadt leben mussten, wurden Sie 1944 im Alter von 18 Jahren mit ihrer Mutter und ihren Schwestern nach Auschwitz-Birkenau deportiert…

Wir wussten nicht, dass wir nach Auschwitz gebracht wurden. Es wurde uns nie gesagt, wann, warum und wohin wir gebracht werden. Was mir aber auffiel: Ein Gebäude mit hohen Schornsteinen, aus denen unaufhörlich ein schwarzer, schwerer, nach verbranntem Fleisch übelriechender Rauch kam, der alles durchtränkte.

In Auschwitz-Birkenau wurden Sie sofort von Ihren Angehörigen getrennt. Es muss ungeheuer schwer gewesen sein, damit zu leben…

Ich konnte das nur, indem ich die Außenwelt fast völlig ausgeblendet habe und mich innerlich wie in einem Kokon abgeschottet habe. Ich habe nicht mal gedacht: Was ist mit Mama und meinen Schwestern geschehen?

Wie schafften Sie es, aus Auschwitz zu entkommen, als Sie sich einem Gefangentransport anschlossen, der in ein Außenlager des KZ Groß-Rosen ging?

Das habe ich spontan entschieden, ohne lange zu überlegen. Ich habe mich - unbemerkt von den Wachen - einer Gruppe von nackten Menschen angeschlossen. Sie haben die Häftlingsnummer tätowiert bekommen und warteten auf die Einkleidung, um »raus« zu einem Arbeitseinsatz gebracht zu werden, wie ich mitbekommen hatte. Auf dieses Wort »raus« habe ich reflexartig reagiert. Ich habe mich kurz umgeschaut, Hemd, Jacke und Hose ausgezogen und mich in diese Gruppe nackter Männer gedrängt, die zur Kleiderkammer gebracht, aber nicht kontrolliert wurden. Diese paar Schritte haben buchstäblich mein Leben gerettet.

Sie scheinen sich so genau zu erinnern, als wenn es gestern gewesen wäre. Ist das alles für Sie gegenwärtig?

Ja. Aber es ist keine schwarze Wolke über meinem Haupt, die mir die Sonne verdeckt.

Träumen Sie von dieser schrecklichen Zeit?

Das weiß ich nicht. Wenn ich aufwache, habe ich jedenfalls keine Erinnerung daran. Aber meine Frau hört manchmal meine Schreie.

»Die Wahrheit ist sehr überzeugend. Und die Menschen werden immer wissen wollen, wie es wirklich war.«

Können Sie heutige Ängste junger Leute verstehen, etwa vor einer Klimakatastrophe?

Ja, aber ich bin kein Fatalist. Ich bin ein verschworener Optimist. Ich glaube an den gesunden Menschenverstand und an die menschliche Vernunft.

Was raten Sie jungen Leuten?

Sich Kenntnisse anzueignen, Bildung. Bildung ist der Schlüssel zu einem würdigen Leben. Haben Leute einen guten Beruf, dann geht es ihnen gut, und dann sind sie auch bereit, zu Anderen gut zu sein. Müssen Menschen den Gürtel enger schnallen, nimmt diese Bereitschaft meist eher ab. Heute ist in Deutschland der Wohlstand relativ groß, auch Obdachlosen wird geholfen, es gibt kaum jemand, der buchstäblich hungert.

Es ist nicht der Hunger, den Sie erlebt haben…

Sagen Sie nicht dieses Wort, denn das hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Wenn Sie heute bei der Arbeit sehr beschäftigt sind und in der Mittagszeit keine Zeit für einen Imbiss haben, glauben Sie vielleicht gegen Abend, dass Sie furchtbar Hunger haben. Aber das ist kein Hunger. Das ist nur gesteigerter Appetit. Hunger ist, wenn man nicht einschlafen kann vor bohrenden Magenschmerzen. Ich habe das in den fünf Jahren, sieben Monaten und drei Wochen, in denen ich das Nazi-Regime erdulden musste, oft erlebt.

Wie kann man die Erinnerung an den Holocaust wachhalten?

Man darf kein Ende des Erinnerns machen, sondern es ist notwendig als Mahnung und Warnung, damit so etwas nie wieder geschieht. Es gibt ja kaum ein Ereignis in der Weltgeschichte, das so genau dokumentiert ist wie die zwölf Jahre der Hitlerherrschaft, nicht zuletzt durch die Täter selbst.

Holocaust-Leugner und Fake News werden sich also auch in Zukunft nicht durchsetzen?

Nein. Die Wahrheit ist sehr überzeugend. Und die Menschen werden immer wissen wollen, wie es wirklich war.

Berlin/Potsdam

Zentralrat der Juden erwartet Stiftung für Geiger-Kolleg im Herbst

Zum Wintersemester 2024/25 soll sie ihre Arbeit aufnehmen

 26.07.2024

Potsdam

Neuer Name für das Abraham Geiger Kolleg bekannt geworden

Die Ausbildungsstätte für liberale Rabbiner soll nach Regina Jonas benannt werden

 26.07.2024

Berlin

Wegner besucht verwüstetes israelisch-palästinensisches Lokal

Das Restaurant wurde vergangene Woche verwüstet

 26.07.2024

Düsseldorf

Sägen, fräsen, bohren

Im Südwesten der Stadt betreibt die Gemeinde eine metallverarbeitende Behindertenwerkstatt

von Stefan Laurin  25.07.2024

Ausstellung

Olympioniken im KZ Buchenwald

Auf dem Ettersberg bei Weimar treffen unterschiedlichste Biografien aufeinander

von Matthias Thüsing  25.07.2024

Berlin

Große Räume für große Träume

Hillel zieht von Neukölln nach Kreuzberg

von Joshua Schultheis  25.07.2024

Olam

Für die Kids

Der Senat unterstützt das Jugendzentrum der Jüdischen Gemeinde zu Berlin mit 450.000 Euro

von Christine Schmitt  25.07.2024

Kommentar

Der »Spiegel« schreibt am eigentlichen Thema vorbei

In seiner Berichterstattung über das Abraham-Geiger-Kolleg konstruiert das Magazin eine Konfliktlinie

von Rebecca Seidler  25.07.2024 Aktualisiert

Leipzig

Sachbeschädigung an jüdischer Einrichtung

Der Tatverdächtige wurde nach der Tat verhaftet und ist inzwischen wieder auf freiem Fuß

 24.07.2024