Limmud

Eruw und Flip-Flops

Es klappert im Speisesaal. Russisch, Englisch, Deutsch, Französisch, Hebräisch, Stimmen schwirren durcheinander. Vor dem Büffet drängeln sich die Kippaträger, und zwischen den Füßen wuseln Kinder. »Klirr«, macht es irgendwo. »Mazal Tov!« ruft der ganze Saal. Eine Stunde später schreien sie: »Am Israel Chai«, das Volk Israel lebt.

Am Werbellinsee ist Limmud-Festival und das bedeutet Juden, wohin man schaut. Große, kleine, junge, alte, liberale, orthodoxe und ein Minjan an Rabbinern. Eine Autostunde von Berlin entfernt, in der Schorfheide, findet das große Treffen statt. Limmud, hebräisch für Lernen, kommt aus England. »Unser Ziel ist, dass Leute Spaß haben, jüdisch zu sein, egal was ihr Hintergrund ist«, erklärt Toby Axelrod, Direktorin von Limmud Deutschland. 400 Menschen, rund 140 Workshops, vier Tage gemeinsam lernen, beten, essen und tanzen mitten in der Natur.

Im Seminarhaus rutschen die Ersten auf den Stühlen. Efraim Zuroff ist da. »Warum ich Nazi-Jäger wurde«, greift er eine Publikumsfrage auf. »Das scheint für mich ein ganz normaler Wunsch für einen Juden zu sein.« Als Direktor des Simon-Wiesenthal-Centers spürt er NS-Kriegsverbrecher auf, wie beispielsweise Dinko Šakic, der Aufseher im kroatischen KZ Jasenovac war. »Es ist wichtig zu zeigen, dass nach 65 Jahren immer noch jemand hinter ihnen her ist.«

Begegnung Die Jugenderholungs- und Begnungsstätte am Werbellinsee liegt im Grünen, zwischen Wiesen und Bäumen verteilen sich Speisesaal und Café, Seminarhaus, Disko, Kino und Wohnbereich. Internet gibt es nicht, auch der Handyempfang ist dünn. Die Stimmung ist verhalten. Noch bleibt man unter sich: die Orthodoxen, die Berliner, die Reformer. In kleinen Grüppchen bewegen sie sich übers Gelände. Die etwas älteren russischen Zuwanderer schieben sich wie ein großer Organismus von einer russischen Veranstaltung zur nächsten. Die 18- bis 30-Jährigen sind stark unterrepräsentiert.

Vor dem Seminarhaus warten zwei Mädchen aus Graz und ein Junge aus Schwerin. Sie suchen den Trommelworkshop mit der israelischen Band Coolooloosh, doch der fällt wohl aus. Vorsichtig beginnen sie ein Gespräch. »Ich hätte mir mehr Interaktives gewünscht, damit man sich besser kennenlernt«, sagt Lary Schild. Der 26-jährige Istanbuler ist vor Kurzem nach Deutschland gezogen und sucht Kontakt. »Ich bin eigentlich hierher gekommen, um Leute zu treffen, aber irgendwie ist das vom Alter her seltsam aufgeteilt.«

Aus dem Seminarraum im zweiten Stock dringt Musik. Zu Reaggy Beats singt der amerikanisch-chassidische Sänger Matisyahu Bibelzitate und Gebete. In Amerika ist er ein Popstar, war bei MTV und Saturday Night Life. »Es gibt eine Renaissance jüdischer Kultur«, glaubt Lisa Klug. Mit ihrem Buch Cool Jew hat sie ein Handbuch jüdischer Popkultur geschrieben.

grenze Unter den jungen Erwachsenen sind die meisten religiös, wie Ronny Rohde (19) beispielsweise. Der Schweriner trägt Kippa und Zitzit lässig zur Jeans und schreibt in seinem Blog Ein jüdisches Leben in Deutschland über Religiöses, Politisches und Persönliches. »Mir gefällt es hier sehr gut«, sagt er. »Dass man mit anderen Leuten ins Gespräch kommt, die man sonst nicht trifft, das ist für mich viel wichtiger als die Workshops.« Ronny hat es eilig, denn es ist Freitag und der Eruw, die Schabbatgrenze steht noch nicht.

Es ist Samstagmorgen, Zeit für die Toralesung. In der Disko predigt Ismar Schorsch, ehemaliger Direktor des Jewish Theological Seminar in New York. In Haus sieben wird mit Avichai Apel orthodox gebetet, bei Rabbiner Walter Rothschild reformiert. Den heutigen Wochenabschnitt nennt er liebevoll »Ikea-Parascha«, denn es geht um den Tempelbau. Auch die Kölnerin Chaya Korotkina macht mit. »Ich bin ja sonst eher orthodox orientiert«, verrät sie und schaut noch skeptisch. »Wir machen mal einen Gemeinschaftsaufruf«, lädt Rothschild alle ein, nach vorne an die Bima zu kommen. Die eingefleischten Reformer gehen sofort, die Neulinge zögern, und am Ende traut sich auch Chaya heranzutreten.

Toleranz »Ich fand es entspannend als Workshop, aber nicht als Gebet. Es ist wichtig, auch um seine eigene Toleranz auszuprobieren und etwas Neues kennenzulernen«, sagt Chaya nachher. Im nächsten Jahr will sie wiederkommen und Freunde mitbringen. »La la lei lei, la la lei lei« kommt es aus der Disko, Jung und Alt, Religiöse und Säkulare liegen sich endlich in den Armen. Ein kleiner Junge zündet die Hawdala-Kerze, die Bar verkauft wieder Bier, und auf der Bühne startet Coolooloosh die Party. In der Ecke diskutiert Ronny Rohde mit einem amerikanischen Chabadnik im Anzug über Kleidung. »Der hat mich nachher noch mit Trainingsanzug und Flip-Flops nach Hause gebracht, das werd ich nie vergessen«, grinst er.

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