Gedenken

»Er war nicht viel älter als ich«

Schüler des jüdischen Albert-Einstein-Gymnasiums in Düsseldorf erinnern an die Pogromnacht vor 83 Jahren

von Christine Schmitt  09.11.2021 07:13 Uhr

Vor dem ehemaligen jüdischen Gemeindehaus: Mahnmal »Grafenberger Allee 78-80« in Düsseldorf Foto: privat

Schüler des jüdischen Albert-Einstein-Gymnasiums in Düsseldorf erinnern an die Pogromnacht vor 83 Jahren

von Christine Schmitt  09.11.2021 07:13 Uhr

Seine Hand ging sofort nach oben, als im Unterricht danach gefragt wurde, wer sich an der Gedenkveranstaltung zur Pogromnacht beteiligen möchte. »Es ist mir sehr wichtig«, sagt Roman, Schüler des Albert-Einstein-Gymnasiums in Düsseldorf, das die Feier am 9. November am Erinnerungszeichen »Grafenberger Allee 78-80« mit ausrichtet.

Das Mahnmal wurde im Frühjahr 2020 eingeweiht. Schüler des Albert-Einstein-Gymnasiums hatten damals verschiedene Biografien erarbeitet, sodass es an die Menschen erinnert, die im jüdischen Gemeindehaus, das dort vor der Nazizeit seine Adresse hatte, gelebt, gefeiert, gearbeitet und gebetet haben, zur Schule gegangen sind und später deportiert wurden.

Ab den 1920er-Jahren waren in dem Gebäude die Loge der jüdischen Organisation B’nai B’rith, ein Kindergarten, ein Res­taurant und ab 1939 unter anderem die Jüdische Volksschule sowie ein Altersheim untergebracht. Ferner wurden dort Gottesdienste und Barmizwa-Feiern abgehalten. Als Juden der Besuch von Kinos und Theatern verboten wurde, diente das Haus auch als Ort für Kulturveranstaltungen wie Filmvorführungen und Lesungen.

TRAUER »Allerdings bin ich nur als Stellvertreter eingeteilt, wenn jemand ausfällt«, sagt Roman. Er hofft, dass er den Text, in dem er das Schicksal des Jugendlichen Kurt Lubascher vorstellt, vorlesen darf. »Kurt ging hier in die Schule, er wohnte mit seiner Familie in dem Haus, weil seine Eltern eine Gaststätte mit angeschlossener Pension hatten, doch die Pogromnacht und die Naziherrschaft änderten alles«, so der Siebtklässler.

Derzeit nehmen die Siebtklässler des Albert-Einstein-Gymnasiums im Religionsunterricht die Nazizeit durch.

Als Kurts Familie eine Aufforderung zur Deportation bekam, nahm sich sein Vater das Leben. Kurt musste als Schlosser arbeiten, seine Mutter in einer Küche. Schließlich wurden sie in das Ghetto Litzmannstadt deportiert und in Chelmno ermordet. »Am Anfang seiner Geschichte war er nicht viel älter als ich heute«, sagt Roman.

Zu Hause spricht er mit seinem Vater und seiner Mutter öfters über die Schicksale seiner Altersgenossen aus dieser Zeit. »Es war damals sehr übel und schlimm.« Bei der Gedenkveranstaltung möchte er nicht so emotional reagieren. Aber: »Tief drinnen in mir ist viel Trauer.« Niemand habe es verdient, so behandelt zu werden. Nach zehn bis 15 Minuten sei seine Trauer meistens vorbei, dann lenke er sich gerne mit einem guten Buch ab, das verbessere seine Stimmung, und es sei für ihn wieder alles in Ordnung.

schicksal Mit dem Schicksal von Kurt Lubascher hat sich auch Daniel intensiv auseinandergesetzt. Denn wenn er gesund bleibt, wird er den Text vortragen. »Mir fallen nur Argumente dafür ein, bei der Gedenkveranstaltung mitzumachen«, sagt der Siebtklässler. Deshalb habe er sich sofort gemeldet, als danach gefragt wurde. Er glaubt nicht, dass er aufgeregt sein wird, wenn er vor so vielen Menschen spricht.

Erfahrungen mit dem Vortragen in der Öffentlichkeit habe er bereits, da er auch schon beim Gedenkstein bei der Alten Synagoge Düsseldorf vorgelesen habe, erzählt Daniel. Geschichte interessiere ihn sehr, und er lerne derzeit sehr viel über Fakten und Zusammenhänge. Am grausamsten findet der Zwölfjährige, dass Hitler an die Macht kam und damit viele Deutsche auch gegen die Juden gestimmt hätten.

»Ich möchte respektvoll mit der Geschichte des Erinnerungszeichens umgehen«, sagt Liel, ebenfalls Siebtklässlerin. An dem Tag werde sie traurig sein, wegen der Geschichte, aber auch froh, dass sie den Text vortragen darf.

Natürlich werde sie etwas Lampenfieber haben, denn zur Veranstaltung kommen neben ihren Mitschülern auch Lehrer, Politiker, der Gemeinderabbiner Aharon Ran Vernikovsky, Kantor Aaron Malinsky und der Gemeindevorsitzende Oded Horowitz. »Da will ich alles richtig machen.« Deshalb gehe sie den Text, den sie vorher geschrieben hat, jeden Tag durch, vielleicht verändere sie noch etwas. Sicherheitshalber will sie ihn auswendig lernen, damit sie perfekt frei sprechen kann.

»Ich möchte es so erzählen, dass alle es gut verstehen, vielleicht kommen ja auch ein paar Passanten vorbei, und die würden dann erfahren, dass wir an diesem Tag trauern und warum«, erzählt Liel.

religionsunterricht Während des Novemberpogroms 1938 wurde die Düsseldorfer Synagoge angegriffen, Juden wurden deportiert und getötet.

Im Unterricht hat sich Liel bereits mit dem Schicksal der Schülerin Hannelore Philipp beschäftigt, die während des Naziregimes ausgegrenzt und schließlich in ein Ghetto deportiert und ermordet wurde.

Anhand von Dokumenten erforschten die Siebtklässler Biografien jüdischer Familien.

»Es war traurig, und ich konnte mir nicht vorstellen, dass so etwas überhaupt möglich ist: dass ich erst komisch angeguckt werde, dann angegriffen und später von allem ausgeschlossen«, sagt Liel.

Derzeit nehmen die Siebtklässler des Albert-Einstein-Gymnasiums im Religionsunterricht die Nazizeit durch. »Um den heutigen Schülerinnen und Schülern die­se Zeit näherzubringen, arbeiten wir mit Biografien jüdischer Kinder aus unserer Stadt«, sagt Religionslehrer Jonathan Grünfeld, der damals das Erinnerungszeichen mit initiiert hat.

lebensgeschichte Die Siebtklässler recherchieren anhand von Dokumenten die Lebensgeschichte dieser Kinder, lernen etwas über ihre Familien und ihr weiteres Schicksal während der Schoa. So erfahren sie beispielsweise auch, dass ihre jüdischen Altersgenossen kurz nach Beginn der Naziherrschaft vom Besuch öffentlicher Schulen ausgeschlossen worden waren. Die Jüdische Gemeinde Düsseldorf musste deshalb schnell reagieren und eine eigene Jüdische Volksschule gründen: Sie wurde schon bald von fast 400 Schülern besucht.

»Die Jüdische Volksschule befand sich in einem Nebengebäude der Synagoge Kasernenstraße, musste aber nach dem Pogrom 1938 in die Grafenberger Allee umziehen«, berichtet Jonathan Grünfeld.

Im damaligen Kunstunterricht des Lehrers Julo Levin malten die Schüler während der Nazizeit viele Bilder, die Auskunft darüber geben, was sie beschäftigte und bewegte.

Levin unterrichtete an der Schule bis 1938. Später wurde er von Berlin aus deportiert und ermordet. Die Bilder aber konnten von einer Freundin Julo Levins versteckt und gerettet werden. »Durch die Beschäftigung mit ihnen wird den Siebtklässlern ein Zugang zur damaligen Welt jüdischer Kinder eröffnet«, sagt Jonathan Grünfeld.

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