Porträt der Woche

Entscheidung in der Nacht

Alexander Khramtsov floh als russischer Oppositioneller nach Freiburg

von Anja Bochtler  17.11.2024 08:59 Uhr

»An die Situation in Russland zu denken, ist belastend«: Alexander Khramtsov (46) aus Freiburg Foto: Rita Eggstein

Alexander Khramtsov floh als russischer Oppositioneller nach Freiburg

von Anja Bochtler  17.11.2024 08:59 Uhr

Bevor ich aus Russland geflohen bin, dachte ich über viele Jahre hinweg, ich würde mein ganzes Leben in Jekaterinburg verbringen. Dort wurde ich 1978 geboren. Jekaterinburg liegt am Uralgebirge. Es ist eine der größeren Städte in Russland, es gibt dort eigentlich alles. In meiner Kindheit und Jugend habe ich mich nicht für Politik interessiert. Das änderte sich 2011, als die Menschen in Russland immer öfter zu diskutieren begannen. Sie wollten mehr Demokratie. In dieser Zeit gab es sehr viel Hoffnung.
Doch dann wurde es immer schwieriger. Zweimal wurde ich bei Demonstrationen festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht.

Nach Beginn des Krieges gegen die Ukraine wurde endgültig klar, dass unsere Hoffnungen nicht realistisch gewesen waren. Im Frühling 2022, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, sind meine Frau und ich gemeinsam mit unserer Tochter geflüchtet. Weil wir Verwandte in Freiburg haben, leben wir jetzt hier. Wir mussten in Deutschland Asyl beantragen. Als russische Oppositionelle ist für uns alles etwas komplizierter als für ukrainische Geflüchtete.

In meiner Kindheit in Jekaterinburg habe ich mit meinen Eltern und meiner Schwester zuerst in einer Zweizimmerwohnung gelebt, später hatten wir vier Zimmer. Wir hatten engen Kontakt zu unseren Verwandten. Alle Geburtstage und Silvester haben wir zusammen mit meinen Großeltern, den Tanten und Onkeln und ihren Familien gefeiert. Mein Vater hat als Elektroingenieur gearbeitet und in seiner Freizeit viel mit mir gebastelt. Wir haben zusammen ein Radio konstruiert. Ich habe mich auch früh für Computer interessiert.

Es gab viel Korruption. Zahlreiche Menschen waren nur darauf aus, Geld zu machen

Meine Mutter hat als Programmiererin Bildungskonzepte entwickelt für einen kulturellen Verein, der Einrichtungen für Kinder leitete. Doch in den 90er-Jahren wurden die Zeiten in Russland schlecht. Es gab viel Korruption. Zahlreiche Menschen waren nur darauf aus, Geld zu machen. Andere hatten im Gegensatz dazu zu wenig Geld. Das alles wirkte sich sehr negativ aus, auch auf die Arbeitssituation meiner Mutter. Meine Großeltern hatten nur eine kleine Rente, und das Gesundheitssystem war nicht gut. Meine Familie wünschte sich mehr Sicherheit für die Zukunft.

So entstand die Idee, dass wir nach Israel auswandern könnten. Wir lernten Hebräisch. Ich bin Jude, ich habe eine innere Verbindung zu dem Land gespürt. Ich las damals viel über Israel und konnte mir vorstellen, dass dort meine zweite Heimat sein würde. Auch meine nichtjüdische Frau, die ich im Jahr 2000 geheiratet hatte, war bereit, mitzukommen. Doch die politische Lage dort war wegen der israelisch-palästinensischen Konflikte schwierig. Deshalb entschloss sich meine Familie, statt nach Israel lieber nach Deutschland auszuwandern. Aber das konnte ich mir damals nicht vorstellen.

Wenn man auf der Wache sitzt, wird einem klar: Jetzt kann alles passieren. Und keiner kann helfen.

Mit Deutschland verband mich nicht wirklich etwas. Außerdem hatte ich in Russland sehr gute berufliche Perspektiven. Ich hatte zuerst begonnen, Physik zu studieren, dann brach ich das Studium ab und arbeitete in meinem Traumberuf als Webdesigner. Meine Frau hatte Biologie studiert, wir haben uns 1996 an der Uni kennengelernt. Uns ging es gut. Warum sollten wir an der Situation etwas ändern und alles aufgeben? Deshalb blieben wir auch noch in Jekaterinburg, als meine Mutter, meine Schwester und viele Verwandte 2003 als sogenannte jüdische Kontingentflüchtlinge nach Deutschland ausgereist waren. Mein Vater blieb in Russland. Meine Eltern hatten sich mittlerweile getrennt.
Meine Verwandten lebten erst im Schwarzwald in der Nähe des Schluchsees, später in Freiburg.

Meine Frau und ich besuchten sie mehrmals. 2008 wurde unsere Tochter geboren. Ich habe viel gearbeitet und meinen Beruf gewechselt – als User-Experience-Designer kümmerte ich mich fortan um die Nutzerinnen und Nutzer von digitalen Produkten.

Bei unseren Reisen wurde mir bewusst, dass ich mit meinem Beruf viele Möglichkeiten in der Welt haben könnte. Ich hatte zwar auch in Russland Erfolg, doch meine Frau und ich machten uns immer mehr Gedanken um die Zukunft unserer Tochter und um unser Land. Ungefähr ab 2011 interessierten sich immer mehr Menschen in Russland für Politik – damals glaubten wir noch daran, dass Veränderungen möglich wären.

Meine Frau und ich demonstrierten gegen den Angriffskrieg

Wir unterstützen die oppositionellen Bewegungen mit Spenden, und wir gingen zu deren Treffen. Wir haben damals viel Zeit, Geld und Mühe investiert. Je größer unsere Protestkundgebungen wurden, desto mehr Polizei kam auch. Der Druck auf uns wuchs. Trotzdem hatten wir noch lange Hoffnung, dass wir etwas erreichen könnten. Das änderte sich nach und nach. Viele Leute wurden bei den Demonstrationen verhaftet und mit auf die Polizeiwachen genommen. Wenn man in der Polizeiwache sitzt, wird einem klar: Jetzt kann einem alles passieren, und niemand vermag zu helfen. Es gibt keinen Schutz. Man ist völlig ausgeliefert. Das erste Mal musste ich dort fünf Stunden bleiben. Man sitzt nur und wartet. Man darf nicht telefonieren, und es ist nicht einfach, einen Anwalt zu bekommen.
Mit dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine hat sich das alles noch viel mehr zugespitzt. Sehr schnell gab es neue Gesetze.

Bald war es niemandem in Russland mehr erlaubt, etwas anderes zu sagen als das, was die offizielle Regierungslinie vorgab. Nur diese Position galt als wahr, alle anderen Informationen wurden als »Fake News« abgetan. Meine Frau und ich gingen zu Demonstrationen gegen den Krieg. Dort wurde ich festgenommen und kam zum zweiten Mal auf die Polizeiwache.
Diesmal musste ich dort sieben oder acht Stunden lang bleiben. Als meine Frau kam und nach mir fragte, wurde ihr gesagt, ich sei nicht da. Das ist typisch, das machen sie oft so. Nachdem ich irgendwann einen Anwalt bekam und mitten in der Nacht nach Hause gehen konnte, haben meine Frau und ich sofort mit meinen Verwandten in Deutschland ein Videogespräch geführt.

Der Krieg dauerte damals bereits vier Wochen, wir hatten Angst, dass die Grenzen bald geschlossen würden.

Die Entscheidung, dass wir Russland verlassen würden, fiel noch in dieser Nacht. Wir wussten, es musste schnell gehen. Der Krieg dauerte damals bereits vier Wochen, wir hatten Angst, dass die Grenzen bald geschlossen würden. Und so haben wir alles ganz schnell geregelt. Meine Verwandten schickten ein Schreiben, in dem stand, dass es meiner Oma gesundheitlich schlecht gehe und wir sie deshalb schnell besuchen müssten. Auch die Israelitische Gemeinde in Freiburg unterstützte uns.

Das Asylverfahren läuft noch

Innerhalb von zwei Wochen bekamen wir ein Visum von der deutschen Botschaft. Wir haben so gepackt, dass alles nach Urlaub aussah, nur der Leitung der Schule unserer Tochter haben wir gesagt, dass sie eine Zeit lang bei ihren Verwandten eine deutsche Schule besuchen würde. Anfangs nahm sie an ihrer alten Schule in Russland noch online am Unterricht teil, inzwischen geht sie auf das Freiburger Kepler-Gymnasium, wo Russisch als Fremdsprache anerkannt wird.

Nach unserer Ausreise lebten wir erst bei unseren Verwandten und haben uns ein bisschen von all dem Stress erholt. Dann haben wir Asyl beantragt.

Das Asylverfahren läuft noch, ich hatte meine Anhörung erst nach einem Jahr. Wenn wir ukrainische Geflüchtete wären, wäre es sehr viel einfacher. Auch mit dem Arbeiten ist es für uns schwieriger. Ich konzentriere mich zurzeit darauf, intensiv Deutsch zu lernen. Meine Frau hätte bereits als IT-Managerin einsteigen können, doch sie muss auf ihre Arbeitserlaubnis warten. Zum Glück haben wir vor anderthalb Jahren eine Wohnung gefunden. Wir leben etwas ländlicher.

Hier ist es sehr idyllisch. An die Situation in Russland zu denken, ist für uns persönlich sehr belastend. Die Menschen dort haben nur noch Zugang zur offiziellen Regierungsmeinung. Viele glauben die Propaganda, weil sie nichts anderes mehr hören. Andere haben Angst und schweigen. Wir hätten dort einfach nicht mehr leben können, es war klar, dass wir fliehen mussten.

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