Interview

»Einfach ein Jahr älter«

Albrecht Weinberg Foto: picture alliance/dpa

Herr Weinberg, Sie sind vergangene Woche 100 Jahre alt geworden. Wie haben Sie diesen Tag verbracht?
Ich habe nie wirklich Geburtstag gefeiert. Ich bin einfach ein Jahr älter geworden. Für mich war das ein sehr anstrengender Tag. Mit 100 geht es nicht mehr so wie mit 18 oder 20. Verstehen Sie, was ich meine? Es war eine ganz tolle Sache hier. Der Bürgermeister hat das Rathaus zur Verfügung gestellt, viele Leute waren eingeladen. Auch die Oldenburger Jüdische Gemeinde hat mir zu Ehren eine Feier ausgerichtet. Das war wunderbar. Da wurde mein Lieblingslied gesungen: »Jerusalem of Gold«.

Momentan haben viele Menschen das Gefühl, die Welt gerät aus den Fugen. Wirkt sich das auch auf Ihre Stimmung aus?
Sie wissen doch, wie das ist. Die Leute, die da eingeladen waren, sind alle sehr nett. Aber was in meinem Kopf vorgeht, das kann ich denen natürlich nicht sagen. Und das können die auch nicht sehen. Fühlen Sie sich glücklich? Sind Sie zufrieden? Solche Sachen werde ich gefragt. Aber in Wirklichkeit ist es so: Man denkt an seine Familie und an das, was war. Der Geburtstag war schön, aber auch nicht einfach.

Nach der Schoa haben Sie lange Zeit in New York gelebt. Seit Ihrer Rückkehr nach Leer vor mehr als zehn Jahren treten Sie häufig als Zeitzeuge auf. Was gibt Ihnen die Kraft und die Motivation, das zu tun?
Mindestens einmal pro Woche rede ich in der ehemaligen jüdischen Schule in Leer mit Schulkindern. Die kommen aus dem Umkreis. Das sind immer um die 40, 50 Schüler. Wir sprechen miteinander, und ich erzähle, was mir als Jugendlicher passiert ist. Das ist meiner Meinung nach immer eine sehr gute Zusammenarbeit. Der heutigen Jugend, also zukünftigen Politikern, zu erzählen, was damals geschah, ist mir eine Genugtuung.

Gab es dabei Momente, die Sie besonders berührt haben?
Die Schüler sind zwischen 14 und 17 Jahre alt. Sie wissen doch: Die meisten Jugendlichen scheinen normalerweise nicht zu wissen, was ihre Vorfahren gemacht haben, oder es wird zu Hause nicht darüber geredet. Doch die, die zu mir kommen, sind ganz offen, und manche erzählen sogar: Ja, mein Uropa ist ein SS-Mann gewesen. Das sind ganz normale Begegnungen mit den Jugendlichen. Die haben keine Scheu.

Was bedeutet es für Sie, heute als Jude in Deutschland zu leben?
Ich glaube, ich bin der einzige Jude in ganz Ostfriesland. Ich habe die meiste Zeit nur mit guten Bekannten zu tun, aber nicht mit der breiteren Öffentlichkeit. Wenn ich in guter Verfassung bin, dann gehe ich auch auf Demonstrationen. Aber die meiste Zeit bin ich im Ruhestand, wie man sagt, und bleibe in meiner Wohnung.

Ich gehe natürlich davon aus, dass Sie 120 Jahre alt werden. Was haben Sie noch vor?
Ich bin einigermaßen gesund für mein Alter. Ich weiß, mein Körper hat sehr nachgelassen. Aber mein Kopf ist noch ganz klar. Ich habe ein Radio, und meine Betreuerin liest mir regelmäßig Bücher vor, meistens über die Geschichte des Holocaust. Ich werde überall hingehen, wo ich ein gutes Werk tun und den Leuten erklären kann, was uns Juden hier in der Nazizeit passiert ist.

Mit dem Schoa-Überlebenden und Zeitzeugen sprach Till Schmidt.

Interview

Holocaust-Überlebender Weintraub wird 100: »Ich habe etwas bewirkt«

Am 1. Januar wird Leon Weintraub 100 Jahre alt. Er ist einer der letzten Überlebenden des Holocaust. Nun warnt er vor Rechtsextremismus und der AfD sowie den Folgen KI-generierter Fotos aus Konzentrationslagern

von Norbert Demuth  16.12.2025

Magdeburg

Neuer Staatsvertrag für jüdische Gemeinden in Sachsen-Anhalt

Das jüdische Leben in Sachsen-Anhalt soll bewahrt und gefördert werden. Dazu haben das Land und die jüdischen Gemeinden den Staatsvertrag von 2006 neu gefasst

 16.12.2025

Bundestag

Ramelow: Anschlag in Sydney war Mord »an uns allen«

Erstmals gab es in diesem Jahr eine Chanukka-Feier im Bundestag. Sie stand unter dem Eindruck des Anschlags auf eine Feier zum gleichen Anlass am Sonntag in Sydney

 16.12.2025

Attentat in Sydney

»Was würden die Opfer nun von uns wollen?«

Rabbiner Yehuda Teichtal hat bei dem Attentat in Sydney einen Freund verloren und wenige Stunden später in Berlin die Chanukkia entzündet. Ein Gespräch über tiefen Schmerz und den Sieg des Lichts über die Dunkelheit

von Mascha Malburg  16.12.2025

Berlin

Chanukka-Licht am Brandenburger Tor entzündet

Überschattet vom Terroranschlag in Sydney wurde in Berlin das erste Licht am Chanukka-Leuchter vor dem Brandenburger Tor entzündet. Der Bundespräsident war dabei

 15.12.2025

Meinung

Es gibt kein Weihnukka!

Ja, Juden und Christen wollen und sollen einander nahe sein. Aber bitte ohne sich gegenseitig zu vereinnahmen

von Avitall Gerstetter  15.12.2025

Berlin

Straße nach erster Rabbinerin der Welt benannt

Kreuzberg ehrt Regina Jonas

 12.12.2025

Berlin

Jüdisches Museum bekommt zusätzliche Förderung

Das Jüdische Museum in Berlin gehört zu den Publikumsmagneten. Im kommenden Jahr feiert es sein 25. Jubiläum und bekommt dafür zusätzliche Mittel vom Bund

 12.12.2025

Chanukkia

Kleine Leuchter, große Wirkung

Von der Skizze bis zur Versteigerung – die Gemeinde Kahal Adass Jisroel und die Kunstschule Berlin stellen eine gemeinnützige Aktion auf die Beine. Ein Werkstattbesuch

von Christine Schmitt  12.12.2025