Porträt der Woche

Eine Busreise mit Folgen

Seit seiner Hochzeit lebt er orthodox – und lernt ständig etwas dazu: Timur Grafmann (36) aus Krefeld Foto: Gustav Glas 2023

Porträt der Woche

Eine Busreise mit Folgen

Timur Grafmann lernte bei einer Fahrt seine spätere Frau kennen

von Christine Schmitt  20.08.2023 08:14 Uhr

Die Hochzeit veränderte mein Leben. Zunächst einmal war ich natürlich glücklich, meine Freundin heiraten und mit ihr zusammenleben zu können. Gleichzeitig war dies der Start in ein orthodoxes Leben. Der Rabbiner der Jüdischen Gemeinde Krefeld, Rabbi Wagner, meinte damals, wenn wir schon heiraten, dann sollten wir auch unter der Chuppa stehen. Das gefiel meiner Frau und mir.

Dann empfahl er noch, dass wir ein koscheres Catering bestellen sollten. Und da dachte ich, dass das alles auch für die Zukunft eine Bedeutung haben sollte – und fing an, mich mit dem Judentum intensiv auseinanderzusetzen. So wuchsen wir in ein koscheres, orthodoxes Leben hinein. Ich entdecke immer mehr neue Dinge, die ich umstellen kann, damit wir dementsprechend leben. Aber es ist nicht einfach für jemanden, der damit nicht aufgewachsen ist.

dnipro Als ich zwölf Jahre alt war, verließen wir Dnipro in der Ukraine, das war im März 1999. Mit dem Judentum hatte ich bis dahin nur wenige Berührungspunkte, ich erinnere mich jedoch, dass meine Oma Jiddisch sprach. Ich wusste nicht viel über das Judentum, habe aber auch nicht danach gesucht. An Repressalien kann ich mich nicht erinnern, als Kinder waren meine Geschwister und ich nie benachteiligt. Wir hatten einen festen Freundeskreis in unseren Schulen und bei uns zu Hause.

Damals wohnten wir in einem Bezirk, in dem die fünf bis neun Stockwerke hohen Häuser aneinandergereiht waren. Wir Kinder nutzten zum Spielen die Innenhöfe. Doch ich erlebte auch, wie schwierig die wirtschaftliche Situation für uns wurde. Um Milch einkaufen zu können, mussten wir beispielsweise morgens früh alle mitkommen und Schlange stehen. Pro Kopf bekam man die Milch zugeteilt. Es waren die Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion. Auch die Gehälter meiner Eltern wurden nicht mehr pünktlich gezahlt.

Sie und meine Oma überlegten, ob wir nach Israel auswandern sollten. Aber da meine Oma schon damals krank war und einen Herzinfarkt überstanden hatte, schien das keine gute Lösung zu sein. Im hessischen Korbach hatten wir hingegen Verwandte – da schien Deutschland die bessere Alternative zu sein. Meine Eltern bereiteten meine Schwester, meinen Bruder und mich auf einen Umzug vor. Leider konnten wir nicht viel mitnehmen.

aufnahmestelle Mit einem Bus gelangten wir an einem Abend in eine Aufnahmestelle in Bad Wildungen, wo wir zunächst untergebracht wurden. Die nächsten sechs Monate lebten wir in einem Wohnheim, dann zogen wir in eine eigene Wohnung. Anfangs war alles spannend. Wir kannten niemanden. Zwar hatte ich etwas Heimweh, aber meine Familie war ja da, sodass ich den Umzug als nicht so schlimm empfand.

Wir brauchen 40 Minuten, um zu Fuß zur Synagoge zu gehen.

Und ich genoss die saubere Luft, denn Bad Wildungen ist ein Kurort. 30 Minuten brauchte ich zu Fuß, um zur Schule zu gelangen. Der Weg führte durch den Wald, vorbei an einem Ententeich, was ich immer sehr genoss. Noch während wir im Heim wohnten, wurden wir zur Schule geschickt, ohne die deutsche Sprache zu verstehen, geschweige denn zu sprechen.

nazis Doch es waren einige Schüler dort, die Russisch sprachen, mit denen ich mich anfreundete. Mit den anderen klappte es nicht so richtig. Es gab in der Gegend auch einige Nazis, die uns Juden gegenüber nicht gerade freundlich eingestellt waren. Aber ich muss sagen, dass ich nie Probleme mit ihnen hatte.

Mein jüngster Bruder Gregor wurde in Fritzlar geboren. Mein Vater absolvierte eine Prüfung und konnte dann als Maschinenbauingenieur im Bereich Instandsetzung von Zügen arbeiten. Meine Mutter hatte in der Ukraine als Erzieherin gearbeitet, doch nun widmete sie sich ganz uns.

Als Kinder hatten wir natürlich keine Wahl: Wohin unsere Eltern ziehen, müssen wir mit. Oder besser: dürfen wir mit. Denn der Kurort Bad Wildungen bot bildungsmäßig und beruflich nicht allzu viele Möglichkeiten. So zogen wir 2002 nach Krefeld, wo mein Vater einen neuen Arbeitsplatz bekam.

FRÜHAUFSTEHER Ich besuchte die zehnte Klasse einer Realschule, konnte dann aber aufs Gymnasium wechseln. Schließlich probierte ich ein Informatik-Studium aus, um festzustellen, dass es nicht das Richtige für mich war. Ich zog das duale Studium, bestehend aus der Ausbildung zum Stadtinspektor sowie dem Studium mit Abschluss zum Diplom-Verwaltungsbetriebswirt, vor und bekam einen Platz bei der Stadtverwaltung Mönchengladbach. 2012 war ich fertig.

Ein paar Jahre später – da war mein Sohn schon geboren – bewarb ich mich in Krefeld um eine Stelle, weil ich an meinem Wohnort arbeiten wollte. Mit meiner dualen Ausbildung kann ich ziemlich flexibel im öffentlichen Dienst tätig sein. Ob Jugendhilfe, Sozialhilfe, Ordnungsbehörde oder Finanzen – ich könnte in jedem Bereich arbeiten. Derzeit nehme ich leitende Aufgaben im Finanzbereich wahr.

Das hört sich erst einmal etwas monoton an, aber ich freue mich jeden Tag auf meine Arbeit, denn für mich ist sie vielseitig. Regelmäßig werde ich mit neuen Problemen und Herausforderungen konfrontiert, für die ich gern Lösungen erarbeite. Es ist alles andere als langweilig. Manchmal wünsche ich mir beinahe, dass es etwas ruhiger wäre.

beamter Jeden Tag stehe ich früh auf, um gegen 6.30 Uhr im Büro zu sein, denn als Beamter habe ich eine Arbeitszeit von 41 Wochenstunden. Zusätzlich muss ich aber auch Gebetszeiten einplanen. Montags bis donnerstags bleibe ich länger im Büro, damit ich freitags früher gehen kann. Dies ist vor allem im Winter, wenn Schabbat früh beginnt, von großem Vorteil. Mein Sohn wird von zu Hause um 6.40 Uhr von dem Schulbus abgeholt, der ihn zur Yitzhak-Rabin-Grundschule nach Düsseldorf bringt. Unsere kleine Tochter darf länger schlafen, nur die anderen Familienmitglieder stehen so früh auf! Meine Frau arbeitet halbtags ebenfalls im öffentlichen Dienst.

Ich bemühe mich immer, am frühen Nachmittag zu Hause zu sein, um meine Frau zu unterstützen und Zeit mit unseren beiden Kindern zu verbringen. Als mein Sohn noch kleiner war, hatte meine Frau ihn jeden Tag nach Düsseldorf gefahren und saß täglich viele Stunden im Auto, damit er eine jüdische Kita besuchen konnte, denn das ist uns wichtig. Heute freuen wir uns, dass er mit einem Schulbus unterwegs ist.

Als wir nach Krefeld kamen, hatten wir noch nicht viele Berührungspunkte mit dem Judentum.

Als wir nach Krefeld kamen, hatten wir noch nicht viele Berührungspunkte mit dem Judentum. Das änderte sich erst, als meine Oma starb und sie auf dem Jüdischen Friedhof beerdigt wurde. So kam ich in Kontakt mit der Jüdischen Gemeinde und dem Rabbiner. Aber ich war kaum in der Gemeinde, damals gab es noch keine Synagoge, nur Gebetsräume.

beten Mein Vater ging freitagabends manchmal zum Beten. Ein- oder zweimal war ich mitgekommen, aber dann habe ich es erst einmal wieder gelassen. Als jedoch von der Gemeinde eine Busreise nach Berlin angeboten wurde, fuhren mein Bruder und ich mit. Und da begegnete ich meiner Frau.

Sie kommt auch aus der Ukraine und wollte Berlin kennenlernen. Von da an war ich häufiger in der Gemeinde, besuchte die Veranstaltungen, war bei Purim und bei den Chanukka-Feiern dabei. Ein paar Mal wirkte ich bei Theateraufführungen zu jüdischen Festen mit. Doch ich muss nicht auf der Bühne stehen, auch wenn es seinen Reiz hat. Vor Publikum aufzutreten, ist nicht meins, wobei ich dies bei manchen Anlässen durchaus gern tue.

Über drei Torarollen verfügt die Krefelder Gemeinde mittlerweile – und bei der Einbringung der letzten waren wir dabei und konnten mitverfolgen, wie der Sofer die letzten Buchstaben schrieb. Das war ein schönes, feierliches Ereignis. Am selben Wochenende waren wir in Antwerpen, wo wir auch eine jüdische Heimat gefunden haben. Es dürfte eine der größten jüdischen Communitys in Europa sein, die nur zwei Autostunden von Krefeld entfernt ist. Dort haben wir – wie auch hier – gute Freunde gefunden, die zur Familie wurden.

ANTWERPEN Auch die koschere Ernährung ist für uns ein wichtiges Thema – da bietet Antwerpen viel Infrastruktur. Dort kaufen wir alles ein, was wir brauchen, und frieren es bei uns ein. Für meinen Sohn ist es normal, eine Kippa zu tragen. 40 Minuten brauchen wir, um zu Fuß zur Synagoge zu gehen. Natürlich halten wir Schabbat. Damit wachsen unsere Kinder auf, später können sie selbst entscheiden, wie sie leben wollen. Wir versuchen jedoch, ihnen als Eltern von klein auf die jahrtausendealten jüdischen Werte und vor allem den jüdischen Stolz zu vermitteln.

Zeit nehme ich mir fürs Lesen – im Judentum ist es eine Pflicht, jeden Tag den Chumasch zu studieren. Aber ich mag auch Fantasy-Romane und sehe gern Actionfilme im Kino. Natürlich gehe ich auch gern spazieren, mag es aber auch, mich mit Technologie und Computern zu beschäftigen – wenn ich freie Minuten dafür finde. Denn am liebsten bin ich mit meiner Familie zusammen und setze mich mit dem Judentum auseinander.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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