Frankfurt

Ein Tag für Anne Frank

Bei der Auftaktveranstaltung am Vorabend des Anne-Frank-Tages: Frankfurts Kulturdezernentin Ina Hartwig und die Dezernentin für Bildung und Integration, Sylvia Weber (v.l.) Foto: Rafael Herlich

»Lasst mich ich selbst sein«, schrieb Anne Frank am 11. April 1944 in ihr Tagebuch. Unter diesem Motto erinnerte die Stadt Frankfurt an das vor 90 Jahren geborene und 1945 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordete Mädchen.

Der Frankfurter Anne-Frank-Tag findet bereits zum dritten Mal statt. Standen in den vergangenen Jahren Anne Franks jüdische Seite und universelle Aspekte ihrer Lebensgeschichte im Fokus, so geht es in diesem Jahr um Anne Frank als Mensch.

Teenager Das Motto bringe einen Wunsch auf den Punkt, den jeder Teenager kenne, erläuterte Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank: den Wunsch, individuell zu sein und nicht von der Erwachsenenwelt bestimmt zu werden.

Der Frankfurter Anne-Frank-Tag findet bereits zum dritten Mal statt.

Mendel hob Anne Franks kritische Haltung hervor: »Wenn sie auf die Welt schaut, in der sie aufwächst, wo Ungerechtigkeit und Verfolgung stattfinden, kommentiert sie das.« Es gebe eine Empörung im Tagebuch, Anne Frank frage: »Warum ist das so?« Auch wenn es sich nicht vergleichen ließe, seien die grundlegende Empörung und die Kommentierung der Erwachsenenwelt in den heutigen Jugendprotesten wiederzuerkennen, meinte Mendel.

Referenten Im Zeichen von Kritik stand die Auftaktveranstaltung am Vorabend des Anne-Frank-Tages. Die Philosophin Hannah Peaceman und die Autorin Esther Dischereit sprachen im Frankfurter Amt für multikulturelle Angelegenheiten über Erinnerungskultur in der Einwanderungsgesellschaft. Beide beklagten das Fehlen nichtjüdischer Referenten mit Migrationsgeschichte auf dem Podium.

»Wir leben in einer postnationalsozialistischen Gegenwart«, stellte Peaceman in ihrem Vortrag fest. Die Gegenwart sei geprägt von Kontinuitäten von Antisemitismus und Rassismus. Die 1991 geborene Doktorandin und ehemalige ELES-Stipendiatin zeichnete ein düsteres Bild der deutschen Gesellschaft. Auf allen Ebenen gebe es strukturellen Rassismus.

Die deutsche »Dominanzgesellschaft«, so Peaceman, richte enge Rollenerwartungen an Juden, innerhalb derer sie keine selbstbestimmten Subjekte seien. Peaceman hinterfragte das Gelingen der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Sie sprach von einer »mehrheitsgesellschaftlichen Meistererzählung«, die zunehmend unter Druck gerate.

vortrag Esther Dischereit erinnerte an Martin Walsers umstrittene Dankesrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Jahr 1998. Darin sprach Walser von Auschwitz als »Moralkeule«. Die 1952 geborene Autorin kam auf Aussagen führender AfD-Politiker zur Erinnerungskultur zu sprechen, die sie als bedrohlicher als Walsers Rede einstufte. Dann zitierte Dischereit aus ihrem 2014 auf Deutsch und Türkisch erschienenen Buch Blumen für Otello. Es handelt von den Verbrechen des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) und beinhaltet Klagelieder, ein Opernlibretto und einen dokumentarischen Teil. Dischereits Vortrag sorgte für bedrückende Stille.

Beim Zentralen Festakt in der Frankfurter Paulskirche wird die ungarische Philosophin Ágnes Heller über Anne Frank sprechen.

Beim Zentralen Festakt in der Frankfurter Paulskirche wird die ungarische Philosophin Ágnes Heller über Anne Frank sprechen. Heller, die am 12. Mai ihren 90. Geburtstag feierte, überlebte gemeinsam mit ihrer Mutter die Schoa. Ihr Vater wurde von den Nazis ermordet.

Neben einer Ansprache des Frankfurter Oberbürgermeisters Peter Feldmann und einem Grußwort von John Goldsmith vom Anne-Frank-Fonds Basel, dem Kooperationspartner des Festaktes in der Paulskirche, spricht auch die UNESCO-Generaldirektorin Audrey Azoulay. Musikalisch umrahmt wird das Gedenken von dem britischen Cellisten Raphael Wallfisch.

Museum Eine ganz andere Erfahrung erwartet die Besucher des Museums Judengasse, einer Dependance des Jüdischen Museums Frankfurt, mit »Goeden nacht« (niederländisch für »Gute Nacht«): nämlich ein kleines, mit diesen Worten von Anne Frank selbst besticktes Stoffsäckchen, in dem das Mädchen ihr Nachthemd aufbewahrte, während es in Amsterdam lebte.

Mit »Otto Frank, Jordanstr. 4« ist ein Buch aus einer mehrbändigen Goethe-Ausgabe gestempelt. Anne Franks Vater besaß zudem um die Jahrhundertwende verlegte Ausgaben von Jugendbüchern wie Onkel Toms Hütte und Charles Dickens’ David Copperfield.

Diese kostbaren persönlichen Objekte werden am 12. Juni im Museum Judengasse präsentiert. Eine Pop-up-Ausstellung gab erste Einblicke in die zukünftige Dauerausstellung des Jüdischen Museums zur Familie Frank. Voraussichtlich ab April 2020 wird sie im restaurierten Rothschild-Palais zu sehen sein. Das am Jüdischen Museum angesiedelte Familie-Frank-Zentrum geht auf Buddy Elias zurück. 2012 beschloss Anne Franks Cousin, dem Jüdischen Museum Frankfurt Objekte aus Familienbesitz als Dauerleihgabe zur Verfügung zu stellen.

»Die Familie hat gern gespielt«, sagt Franziska Krah, Leiterin des Familie-Frank-Zentrums. Sie zeigt auf ein Reim-Quartett für Kinder, das die Familie Frank nutzte. Die eintägige Ausstellung zeigte Anne Frank und ihre Familie von einer privaten, fast intimen Seite. Der Protagonistin dieses Tages kam sie womöglich am Nächsten.

40.000 Schülerinnen und Schüler aus 250 Schulen beteiligen sich am Anne-Frank-Tag.

Schule Auch bundesweit wurde an Anne Frank erinnert: 40.000 Schülerinnen und Schüler aus 250 Schulen beteiligen sich am 12. Juni am Anne-Frank-Tag. Der Aktionstag gegen Antisemitismus, Rassismus und für Demokratie an Schulen steht deshalb unter dem Motto »Anne Frank 90«, hieß es vom Berliner Anne-Frank-Zentrum.

Die teilnehmenden Schulen erhielten Lernmaterialien zum Leben des jüdischen Mädchens. Dazu gehört unter anderem eine großformatige Posterausstellung. Der bundesweite Auftakt des Aktionstages fand in Gütersloh mit dem Zeitzeugen Pieter Kohnstam statt. Kohnstam lebte als Kleinkind bis 1942 in direkter Nachbarschaft der Familie Frank in Amsterdam, bevor er mit seiner jüdischen Familie nach Südamerika floh.

Hashtag Wie das Erinnern ohne Zeitzeugen aussehen soll, darüber sprachen die Autorin Gila Lustiger und die pädagogische Leiterin der Frankfurter Bildungsstätte Anne Frank, Saba-Nur Cheema, in der Abschlussveranstaltung »Die Zukunft der Erinnerung«.

Auch digital wurde mit dem Hashtag »LasstMich« an das junge Mädchen erinnert. Und ganz eigene Wege ging der Künstler Dalibor Markovic, der kein Bild postete, sondern eine Rede ganz anderer Natur hielt: Er beatboxte für Anne.  (mit epd/kat)

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