Essen

Ein Klavier für ein Leben

Gut gelaunt betritt Jurek Rotenberg die Alte Synagoge Essen. Der 84-jährige Israeli scherzt mit den Journalisten, zückt eine eigene Kamera, um Fotos von den Pressevertretern zu machen, und bedankt sich bei Oberbürgermeister Reinhard Paß für den Empfang. Gelegentlich lächelt Rotenberg verschmitzt. Doch die Aufregung sieht man dem betagten Herrn an, der sich im Laufe des Morgens noch unzählige Male und bei jeder Gelegenheit bedanken wird.

Das für ihn so bedeutsame Klavier, das er heute seinem einstigen Retter, dem Industriellen Berthold Beitz, übergeben möchte, steht schon in einiger Entfernung bereit. Die Jahre haben sich unverkennbar in sein dunkles Holz geschrieben. »Dieses Klavier«, betont Rotenberg, »ist nicht bloß ein Klavier. Es hat – wie vielleicht jedes Instrument – eine Seele. Es ist von Sankt Petersburg nach Boryslaw und von dort nach Israel transportiert worden. Seine letzte Station ist hier.«

Rotenbergs Mutter bekam das Klavier mit elf Jahren. Sie galt schon früh als Wunderkind. Später arbeitete sie in Polen als Konzertpianistin. Das Instrument half ihr, während des Krieges das Überleben der Familie zu sichern. Darauf gab sie Klavierstunden, für die sie mit Lebensmitteln entlohnt wurde. Später erteilte eine Freundin der Mutter auch Jurek Unterricht auf dem Klavier, dessen alte Elfenbeintasten er gestern noch ein letztes Mal angeschlagen hat.

Gefühle Uri Kaufmann, Leiter der Alten Synagoge Essen, sagt: »Das Klavier ist ein Symbol für die Beteiligung und Mitgestaltung der jüdischen Kultur.« Rotenberg berichtet als einer der letzten Überlebenden aus Boryslaw (Ostgalizien) von dem Tag im August 1942, an dem er Berthold Beitz begegnete. Damals waren seine Familie und er bei Freunden untergebracht. Während seiner Erzählung zeugt jede Bewegung von den belastenden Gefühlen, die mit den Erinnerungen zurückkehren. Rotenbergs nervöse, aber zuversichtliche Stimmung verblasst zunehmend. Er reibt mit den Händen angespannt über die Knie: »Wir beobachteten aus unserem Versteck im dritten Stock eine Großaktion von SS und Gestapo. Ich war jung und wollte nicht gucken, aber meine Mutter sagte ›Schau mal zu.‹«

Er hörte das Geschrei der Männer, sah mehrere Wagen, in denen alte und junge Juden abtransportiert werden sollten. Mitten im Tumult tauchte der damals 28-jährige Berthold Beitz auf, der sich lautstark darüber beschwerte, dass man seine Arbeiter wegbrachte. Beitz war zu dieser Zeit Ölmanager in Galizien. Er stellte dem 14-jährigen Rotenberg und seiner Familie Arbeitsdokumente aus, mit denen er sie der SS und Gestapo gegenüber als unverzichtbar für die Ölproduktion ausgab. Durch sein bestimmtes Auftreten gelang es ihm, SS und Gestapo einzuschüchtern, sodass er etwa 500 Menschen, Arbeiter und Nicht-Arbeiter, wieder aus den Wagen holen konnte. Rotenberg sagt: »Beitz war ein sehr resoluter junger Herr, ein Gentleman und eine Kapazität. Ich hatte ihn zuvor schon einmal gesehen.«

Würde »Alle wussten automatisch, dass sie Beitz zu Dank verpflichtet waren. Wir haben zwar nur Dokumente bekommen, aber wir wussten Bescheid«, sagt Rotenberg und ergänzt: »Beitz sah, dass etwas nicht in Ordnung war. Er war mutig genug, den Leuten zu helfen, aber er war allein. Für uns war er ein Held. Wenn er nicht da war, waren wir ohne Vater und wussten nicht, was wir machen sollten. Herr Beitz hat uns geholfen, unsere Würde und die der anderen Kollegen – sowohl der jüdischen als auch der nichtjüdischen – zu bewahren.«

Rotenberg machte in den folgenden Jahren Karriere bei einer Reederei. Heute lebt er in Haifa in Israel. Beitz wurde später Krupp-Generalbevollmächtigter und setzte sich als einer der ersten Industriellen der BRD für eine Entschädigung für NS-Zwangsarbeiter ein. Heute ist der 99-Jährige Vorstandsvorsitzender der Krupp-Stiftung in Essen. Jedes Jahr schickte Rotenberg zu Weihnachten eine Karte an ihn, aber erst der Beitz-Biograf Joachim Käppner stellte im Laufe seiner Recherchen den Kontakt zwischen beiden her.

Durch eine Seitentür betritt Berthold Beitz schließlich den Raum. Die beiden Männer gehen aufeinander zu und drücken sich dabei die Hände wie zwei Menschen, die sich noch einmal versichern möchten, dass sie es überstanden haben. Susanne Henle, die Tochter von Berthold Beitz sagt: »Das war das für ihn so belastend: dass er in vielen Fällen nicht helfen konnte und Zeuge sein musste.« Ihrem Vater gehen die Worte in diesen Momenten nur schwer über die Lippen. Er hätte nicht gedacht, überhaupt noch einen Überlebenden von damals wiederzutreffen. Rotenberg und Beitz nehmen nebeneinander Platz, flüstern hin und wieder etwas, während der Pianist und Dirigent Boris Bloch am Klavier zu einem Chopin-Stück ansetzt.

Tränen Rotenberg ist sichtlich gerührt und bedankt sich noch einmal. Er faltet seine Hände, presst die Lippen aufeinander und sagt: »Ich werde jetzt sehr emotional. Entschuldigung.« Beruhigend lächelt Beitz Rotenberg zu, als dieser die Brille abnimmt, um sich die Tränen aus dem Gesicht zu streichen. Er drückt noch einmal seine Hand. Beide stehen auf, kurz nachdem der Widerhall des letzten Tons verklungen ist.

Die beiden Männer haken sich bei einander unter und gehen langsam und gemeinsam zur Tür hinaus. Beitz und Rotenberg haben die Öffentlichkeit an diesem historischen Moment teilnehmen lassen, ziehen sich nun aber für ein privates Mittagessen zurück. Niemand kann es ihnen verdenken. Nach 70 Jahren.

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