Nachruf

»Ein großer Verlust«

Barbara Witting sel. A. (1951–2023) Foto: Uwe Steinert

»In tiefer Trauer und Mitgefühl nehmen wir Abschied von Barbara Witting, unserer beliebten Schulleiterin und außergewöhnlichen Persönlichkeit.« So steht es in der Traueranzeige, die Freunde und Ehemalige des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn im »Tagesspiegel« veröffentlicht haben.

Etwa 200 Freunde, ehemalige Schüler, Kollegen und Verwandte kamen am Montag zur Beerdigung zum Friedhof Weißensee, darunter auch Gideon Joffe, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, und Peter Sauerbaum, ehemaliger Kulturdezernent der Gemeinde. Die Gebete und Reden sprachen die Rabbiner Jonah Sievers und Andreas Nachama. »Sie lebte gern. Es ist ein großer Verlust, dass sie nicht mehr bei uns ist«, betonte Rabbiner Nachama. Barbara Witting wurde 72 Jahre alt.

leitfigur Ihre jüngere Schwester Shirley Rheinhaus betonte in ihrer Rede, dass Barbara für sie immer eine große Leitfigur gewesen sei. Da ihr Vater früh verstorben sei, habe die Ältere immer auf sie aufgepasst. Bevor Barbara wusste, dass sie Lehrerin werden würde, sei sie es schon gewesen. Und: Sie war immer mutig. »Mut« steht nun auf ihrem Grabstein. Und um als Jüdin in einer christlich geprägten Umwelt zu leben, brauchte sie ihn auch.

Mehr als vier Jahrzehnte – davon zwölf Jahre als Direktorin des Jüdischen Gymnasiums Moses Mendelssohn – ging sie ihrem Traumberuf nach. Schon als Jugendliche wusste sie, dass sie einmal vor Schulklassen stehen würde. Mehrere Wecker habe sie in dieser Zeit verschlissen, um immer rechtzeitig in der Schule zu sein, sagte sie einmal. Bereits mit 23 Jahren stand sie vor den Schülern und unterrichtete in Köln eine fünfte Klasse – obwohl sie damals selbst noch Studentin war. Auch als sie ihre beiden Töchter bekam, nahm Witting lediglich den gesetzlich vorgeschriebenen Mutterschutz in Anspruch und unterrichtete rasch wieder.

Als sie 1987 Direktorin eines Gymnasiums in Bergisch Gladbach wurde, schaffte sie es, Bedenken vieler Lehrer und Eltern auszuräumen: »Ich war eine junge Frau – da konnten sich viele nicht vorstellen, dass das klappen könnte.«

Sie tauschte eine große gegen eine kleine Schule und war glücklich.

Jahre später sah sie eine Stellenausschreibung der Jüdischen Oberschule Berlin – so hieß damals das Jüdische Gymnasium Moses Mendelssohn –, die eine neue Leitung suchte. Sie bewarb sich. Zu diesem Zeitpunkt war ihr Mann Werner nach Berlin versetzt worden, eine ihrer Töchter studierte dort. Bis dahin lebte Barbara Witting in Bergisch Gladbach und leitete das Nicolaus-Cusanus-Gymnasium (NCG).

So tauschte sie ein Haus mit Garten gegen eine kleine Wohnung in Moabit und eine Schule mit 1000 Schülern gegen eine mit ein paar Hundert – und war glücklich. Es sei ihre schönste Zeit im Berufsleben gewesen, betonte Schwester Shirley in ihrer Rede. »Schreckliche Klassen oder schlimmste Klassen kenne ich nicht«, beteuerte Barbara Witting in einem Interview. Auf schwierige Schüler einzugehen, hatte ihr immer gelegen. Ihre Tür stand den Schülern offen, damit jeder sehen konnte, dass man hereinkommen konnte. Schüler und Kollegen sollten wissen, dass sie grundsätzlich ansprechbar war.

2014 räumte sie ihren Schreibtisch im Jüdischen Gymnasium, um ein »Leben ohne Stundenplan«, wie sie sagte, zu führen. Aber sie blieb in Kontakt mit der Schule und wurde Mitglied im Förderverein, in dem sie zuletzt Vorsitzende war.

REISEN Gemeinsam mit ihrem Mann wollte sie von nun an viel reisen – und zwar auch außerhalb der Schulferien. Vor allem ihre Tochter in Israel wollten sie besuchen und außerdem möglichst viele Länder sehen, in denen sie bisher noch nicht waren. Auch mit ihrer Schwester unternahm sie Städtereisen. Segeln, Tennis, Schwimmen und regelmäßiges Training im Fitnessklub standen ebenfalls bei Barbara Witting auf der Agenda, genauso wie Konzert-, Kino- und Museumsbesuche. Ganze Tage konnte sie mit dem Schmökern von Literatur verbringen. Noch nicht einmal zehn Jahre blieben ihr, diese Wünsche zu verwirklichen.

Geboren wurde Barbara Witting in Kalifornien, da ihr Vater 1938 von Bochum mit einem Kindertransport nach Amerika geflohen war. Aus seiner Familie überlebte niemand sonst die NS-Zeit. Anfang der 50er-Jahre kam die Familie nach Deutschland zurück – ursprünglich sollte es nur eine Zwischenstation sein. Nachdem ihr Vater jahrelang die Zeitungen nach antisemitischen Tendenzen durchforstet hatte, teilte er irgendwann mit, dass die Familie doch bleiben werde. Offenbar hatte er keine Bedenken mehr. Die Familie lebte in Köln.

Der Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen lag ihr immer am Herzen und spielte in ihrem Leben eine große Rolle.

In den Ferien fuhr sie als Jugendliche zu den Machanot in Bad Sobernheim und mit 17 mit der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) zum ersten Mal nach Israel. Sie besuchte ein städtisches Gymnasium und habe gefühlt, dass sie anders sei als die anderen, sagte sie einmal. Wahrscheinlich konnte sie sich deshalb auch so gut in andere Jugendliche hineinversetzen, die aufs Jüdische Gymnasium wechseln wollten.

Sie glaubte, das Wichtigste seien die Begegnungen. Der Dialog zwischen Menschen unterschiedlicher Religionen und Kulturen lag ihr immer am Herzen und spielte in ihrem Leben eine große Rolle. Deswegen engagierte sie sich auch im Projekt »House of One«. In der Synagoge Pestalozzistraße besuchte sie die Gottesdienste, dort hatte sie ihren festen Platz. Ferner war sie Co-Vorsitzende der gemeinsamen Arbeitsgemeinschaft des Zentralrats der Juden und der Kultusministerkonferenz zur Vermittlung des Judentums im Schulunterricht.

LÖSUNGEN Auch ihre ehemalige Schule hat einen Nachruf auf ihre Homepage gestellt: »In der Zeit ihrer Schulleitung hat Frau Witting viele Akzente gesetzt, die auch noch heute fortwirken. Als erste Schulleiterin des Nicolaus-Cusanus-Gymnasiums war Frau Witting schon in den 80er- und 90er-Jahren ein Vorbild, gerade auch für die Schülerinnen des NCG. Für ihre Offenheit und Geradlinigkeit wurde sie in der gesamten Schulgemeinschaft des NCG sehr geschätzt.«

Er habe nur positive Gespräche mit ihr in Erinnerung, sagt Peter Sauerbaum, der in seiner Zeit als Kulturdezernent mit Witting zusammengearbeitet hat. Immer hätte man mit ihr bei Problemen gemeinsam Lösungen finden können. »Sie war für mich eine Inspirationsquelle und eine starke Frau, die immer Ruhe und Professionalität ausstrahlte. Sie stand immer vor und hinter uns Lehrkräften«, sagt Noga Hartmann, die früher Lehrerin am Jüdischen Gymnasium war und heute Direktorin der I. E. Lichtigfeld-Schule in Frankfurt ist.

Barbara Witting hinterlässt einen Ehemann, zwei Töchter und zwei Enkelkinder. Ihre direkten Worte, ihre klare Stimme, ihre Energie, ihr Interesse an anderen und ihre Empathie werden fehlen.

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