Porträt der Woche

Die Welt verbessern

Wurde im März in den Vorstand der Jüdischen Studierendenunion gewählt: Noam Quensel (19) aus Frankfurt Foto: Michael Faust

Porträt der Woche

Die Welt verbessern

Noam Quensel möchte sich engagieren und das Judentum nach außen tragen

von Eugen El  06.07.2025 09:49 Uhr

Ich bin in einem »Safe Space« aufgewachsen, denn ich konnte mein Judentum so ausleben, wie ich es wollte. Ich konnte mich selbst in meiner Religion erforschen und ihre Bedeutung für mich herausfinden. Ich bin immer noch dabei – und es wird, glaube ich, auch mein ganzes Leben lang so gehen.

In Frankfurt am Main, wo ich 2006 geboren wurde, gibt es eine starke und sichere Infrastruktur für junge jüdische Menschen – angefangen mit Kita und Schule sowie mit weiteren Angeboten wie dem Jugendzentrum »Amichai«. Ich bin in den jüdischen Kindergarten »Bereschit« im Ostend gegangen. Anschließend habe ich die I. E. Lichtigfeld-Schule absolviert – von der Eingangsstufe im Westend bis zur Oberstufe im historischen Philanthropin-Gebäude. Dort habe ich dieses Jahr Abitur gemacht.

Von jüdischen Freunden, die auf andere Schulen gehen, weiß ich, dass sie an jüdischen Feiertagen nicht zum Unterricht gehen – und dadurch sehr viel nachholen müssen. Teilweise konnten sie Klausuren nicht mitschreiben, die auf Feiertage fielen. Sie hatten dann wirklich Probleme. Das merkt man umso mehr an Hochschulen, wo Prüfungen nicht nachgeholt werden können, sodass jüdische Studierende mitunter ein ganzes Semester wiederholen müssen.

Ich bin mit der Ronald S. Lauder Foundation auf Machanot gefahren – im Sommer zum Wandern und im Winter zum Skifahren nach Österreich. Ich fand es sehr familiär, weil immer dieselben jungen Leute und dieselben Madrichim dabei waren – es war wie ein zweites Zuhause für mich. Wir waren etwa 50 bis 60 Teilnehmer aus ganz Deutschland – aus Berlin, München, Düsseldorf und Frankfurt, aber auch aus kleineren Städten wie Krefeld oder Lübeck.

Meine Eltern haben mich modern-orthodox erzogen. Mein Vater ist in der Nähe von Frankfurt geboren, er arbeitet als Wirtschaftsjurist in einer Großkanzlei. Meine Mutter kommt aus Sankt Petersburg, sie arbeitet im Jugendreferat der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST). Wir haben zu Hause die Feiertage begangen und die Kaschrut gehalten. Jeden Schabbat und an den Feiertagen war ich in der Synagoge. Ich habe gelernt, wie man betet, und ich habe Tora gelernt. Das hat mich geprägt. Auch wenn ich unterwegs bin, versuche ich, so gut es geht, koscher zu leben. Ich achte immer darauf, was und wo wir essen.

Wir sind nicht jüdische Mitbürger, sondern Bürger jüdischen Glaubens. Wir gehören dazu.

Religiös zugehörig fühle ich mich in allen Frankfurter Synagogen. Oft gehe ich in die Baumweg-Synagoge. Sie ist sehr heimisch, dort kenne ich alle. Es ist wie eine kleine Familie – das finde ich sehr schön. Aber auch, wenn ich in die Westend-Synagoge gehe, werde ich immer herzlich von den Mitbetern aufgenommen.

Am Schabbat arbeite ich nicht. Das gibt mir eine gewisse Sicherheit und eine Struktur. Ich weiß, jeden Freitagabend ist Schabbat, und ich weiß, dass ich das Handy ausmache. Denn dann kann ich mich entspannen und mich auf die wesentlichen Sachen konzentrieren – wie Familie etwa.
Mit meinen Großeltern mütterlicherseits haben wir Russisch gesprochen. Ich habe es, so gut es ging, versucht. Leider ist mein Großvater vor drei Jahren gestorben.

Dass meine Mutter ein sogenannter Kontingentflüchtling ist, hat nie wirklich eine große Rolle in meinem Leben gespielt. Und weil der Großteil meiner Mitschülerinnen und Mitschüler auch russischsprachigen Ursprungs ist, war meine Herkunft auch kein Thema an der Schule.

Es gibt Gegenden in Frankfurt, die ich nicht mit sichtbarer Kippa betrete

Frankfurt ist für mich eine sehr schöne Stadt, und ich lebe gern hier. Doch allmählich merke ich, dass es Viertel gibt, wo es generell, vor allem aber für jüdisches Leben, sehr schwer ist. Es gibt Gegenden in Frankfurt, die ich nicht mit sichtbarer Kippa betrete, wo ich auch meinen Geisel-Pin einpacke und die Kette verstecke. Da fühle ich mich nicht wohl. Es sind vor allem Orte wie der Hauptbahnhof, wo sich niemand gern aufhält. Aber auch auf der Zeil, der großen Einkaufsstraße, oder im Gallusviertel ist es schwierig. Im Westend und im Nordend kann ich hingegen mit Kippa herumlaufen, ohne dass es jemanden interessiert.

Meine Mutter engagiert sich sehr stark im Bereich Frauenförderung. Sie ist maßgeblich an der Organisation des jährlichen Jewish Women Empowerment Summit beteiligt. Vor drei Jahren hat sie mir einen Praktikumsplatz bei der Geschäftsstelle der Jüdischen Studierendenunion Deutschland (JSUD) in Berlin vermittelt. Ich hatte damals mein politisches Erwachen und wollte mich einbringen und etwas lernen. Es war zwar nur ein zweiwöchiges Schulpraktikum, aber ich kam erstmals in Kontakt mit der Politik. Mit der damaligen JSUD-Präsidentin Anna Staroselski war ich im Bundestag und auf Veranstaltungen.

Danach war ich erst einmal weg, denn als 16-jähriger Schüler gehörte ich nicht zur Zielgruppe der Jüdischen Studierendenunion. Die damaligen Vorstandsmitglieder Hanna Veiler und Lena Prytula haben mich dann aber zu Veranstaltungen eingeladen. Es hat Spaß gemacht, also habe ich mich immer wieder eingebracht. 2024 habe ich das JSUD-Religionsreferat mitbegründet. Wir haben leider sehr viel mit Antisemitismus zu tun – aber wir wollen ein positives Judentum nach außen vertreten.
Durch das Religionsreferat können wir zeigen, was jüdische Identität überhaupt ist, so die Idee. Im vergangenen Jahr habe ich einen internationalen Schabbaton in Frankfurt und die Tagung der World Union of Jewish Students in Berlin mitorganisiert. Auf der Vollversammlung in Hamburg Anfang März wurde ich in den JSUD-Vorstand gewählt und kann mich nun weiterhin einbringen.

Das Judentum ist eine sichere Linie durch mein Leben

Das Judentum ist für mich zuallererst eine Religion, eine Glaubensgemeinschaft. Es gibt mir einen Glauben an eine Zielsetzung in meinem Leben: Ich möchte die Welt zu einem besseren Ort machen. Das Judentum ist zudem eine sichere Linie durch mein Leben. Die Feiertage kommen immer wieder. Das ist ein Kreis, der sich jedes Jahr aufs Neue wiederholt. Jede Woche aufs Neue ist Schabbat. Das Judentum bedeutet für mich aber auch Community und Familie: Überall auf der Welt gehe ich in eine Synagoge, eine Gemeinde – und ich werde aufgenommen, unabhängig davon, ob ich Hebräisch, Englisch oder Deutsch kann, sondern einfach nur, weil ich jüdisch bin.

Dazu kommt die Verbindung zum Land Israel. Es ist das einzige jüdische Land der Welt. Israel ist ein sicherer Hafen: Im schlimmsten Fall weiß ich, dass ich dorthin gehen kann und geschützt sein werde. Ich hoffe, dass ich niemals aus Sicherheitsgründen nach Israel ziehen muss. Aber ich weiß, dass es dieses Land gibt und ich dort aufgenommen werde – egal, was passiert. Weil ich diesen Ort habe, setze ich mich auch politisch stark für den Staat Israel ein. Natürlich äußere ich auch Kritik, wenn die israelische Regierung Dinge tut, die nicht in Ordnung sind. Aber nichtsdestotrotz ist es aus meiner Sicht das einzig Richtige, für den Staat Israel einzustehen.

Ich bin seit 2010 Mitglied bei Eintracht Frankfurt

In Israel war ich bislang viermal – das erste Mal zu meinem ersten Geburtstag. Am liebsten bin ich in Jeruschalajim – dort fühle ich mich zu 100 Prozent glücklich. Es bewegt mich, an einem gewöhnlichen Dienstagmorgen an der Kotel zu stehen und zu sehen, dass es voll ist. Und natürlich auch Tel Aviv, die Partystadt schlechthin. Eigentlich mag ich den Strand nicht – vor allem mit dem Sand, der überall hinkommt und mühsam abgeduscht werden muss, kann ich nichts anfangen. Und trotzdem: Tel Aviv bringt ein eigenes Gefühl mit sich, nicht so ein Holy Feeling wie Jerusalem, aber ein Gefühl von Zugehörigkeit – und von der Vielfalt des Judentums, die mir in ganz Israel gefällt.

Nach dem Abitur möchte ich an der Frankfurter Goethe-Uni Politikwissenschaft studieren, zum Masterstudium könnte ich nach Berlin gehen. Im Endeffekt würde ich sehr gern nach Frankfurt zurückkommen. Ich finde die Stadt toll, und der Weg ins Stadion ist nicht so weit. Ich bin seit 2010 Mitglied bei Eintracht Frankfurt.

Eines Tages möchte ich eine Familie mit einer jüdischen Partnerin gründen. Damit lasse ich mir aber Zeit. Mit 19 ist es noch zu früh für mich, erst einmal sind andere Dinge wichtiger.

Mein Ziel ist es, jüdische junge Erwachsene stärker in die Community zu holen. Es ist mir aber auch wichtig, das Judentum in seiner ganzen Vielfalt nach außen zu tragen. Ich setze mich für ein starkes jüdisches Leben in Deutschland ein. Ich möchte, dass es zu etwas Selbstverständlichem wird und dass vor allem die Nichtjuden merken: Wir sind nicht jüdische Mitbürger, sondern Bürger jüdischen Glaubens. Wir gehören dazu, und wir sind nicht anders als die anderen. Das möchte ich umsetzen

Aufgezeichnet von Eugen El

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