Veronika Nahm

»Die Welt ein Stück besser machen«

Veronika Nahm Foto: Gregor Zielke

Frau Nahm, Sie sind bereits seit Jahren im Anne Frank Zentrum tätig und treten nun die Nachfolge des ehemaligen Leiters Patrick Siegele an. Wo ist Ihnen Anne Frank das erste Mal begegnet?
Diese Fragen stellen wir auch sehr gerne unseren Teilnehmenden und Multiplikatoren. Ich bin Anne Frank erstmals in der achten Klasse begegnet, als wir im Deutschunterricht das Thema Nationalsozialismus und Holocaust behandelten. Wir durften uns selbst auf die Suche nach Themen begeben. Ich bin auf das Tagebuch von Anne Frank gestoßen und habe darüber ein Referat gehalten.

Welche Botschaft hat Anne Frank Ihnen damals vermittelt?
Es war die Begegnung mit einer Gleichaltrigen: Ich als 14-jährige Schülerin traf auf ein Mädchen in der Geschichte, und es gab viele Gemeinsamkeiten und Berührungspunkte, was den philosophischen Blick auf die Welt angeht. Anne Frank beschreibt ihren Alltag, das Leben im Versteck, die Verfolgung als Jüdin durch die Nationalsozialisten, und sie stellt die ganz großen Fragen an die Welt.

Welche beispielsweise?
Es geht um Fragen der Identität: Wer bin ich, was macht mich aus? Wie gehe ich mit den Zuschreibungen der anderen um, die mich auf Teile meiner Identität festlegen? Und Anne beschreibt das Ringen darum, ein guter Mensch zu sein. Damit konnte ich mich als Jugendliche identifizieren, ich habe damals stark eine Verantwortung gespürt, die Welt in ihrer Komplexität zu verstehen, eine eigene Position und eine Vision zu entwickeln, wie die Welt besser werden kann. Ich denke, das ist auch heute bei vielen Jugendlichen so, verliert sich aber mitunter im Alter.

Sie verantworten die Ausstellung »Alles über Anne«. Was planen Sie jetzt?
Wir sind überglücklich, dass wir wieder öffnen durften. Das nächste tolle Projekt ist die Eröffnung des Anne-Frank-Tages. Dieses Jahr haben sich rund 500 Schulen bundesweit angemeldet, mehr als je zuvor. Wir werden uns zusammen mit 90.000 Schülern an Anne Frank erinnern und über Antisemitismus und Rassismus heute nachdenken. Die Schüler werden die »Anne Frank Zeitung«, die Plakatausstellung und weitere Materialien nutzen.

Neben der Ausstellung bieten Sie etliche pädagogische Materialien an, laden zu Spaziergängen auf den Spuren jüdischen Lebens in der Nachbarschaft ein.
Wir sind eine Organisation, die versucht, Kindern und Jugendlichen Lernräume zu eröffnen. Das bedeutet zum einen, dass die Angebote immer interaktiv sind. Wir wollen nicht nur Wissen verbreiten, sondern wir möchten Jugendliche dazu anregen, über Fragen nachzudenken und eigene Positionen zu entwickeln. Es bedeutet zum anderen, dass die Materialien für alle Jugendlichen zugänglich sein sollen. Sie müssen so gestaltet sein, dass sie beispielsweise auch für Blinde, Gehörlose oder für Jugendliche mit Lernschwierigkeiten funktionieren, ob analog oder digital. Das ist etwas, was ich als neue Leiterin verstärken will.

Auch jugendliche Peer Guides wirken an der Ausstellung und bei den Führungen mit. Wie haben Sie es geschafft, sie dafür zu gewinnen, was beobachten Sie dabei?
Das ist wirklich eine Erfolgsgeschichte. Wenn wir neue Peer Guides suchen, machen wir ganz breit darauf aufmerksam: neben Universitäten auch über Jugendklubs und Selbstorganisationen von Jugendlichen. Wir betreuen sie sehr intensiv. Es gibt regelmäßige Fortbildungen und Studienreisen, sodass sich eine Gruppe entwickeln kann. Wichtig sind dabei kollegiale Besprechungen auf Augenhöhe. Die Voraussetzung, sich als Peer Guide zu engagieren, ist das Interesse an Anne Frank und an der Vermittlung der Geschichte an Jugendliche. Aber die Peer Guides sind ja nicht pädagogisch ausgebildet. Wir müssen sie gut unterstützen, damit sie nicht überfordert werden. Was ihnen gemeinsam ist, ist ihr Wunsch, durch ihre Arbeit die Welt ein Stück besser zu machen.

Lässt sich mit Anne Frank etwas gegen Antisemitismus bewirken? Pädagogik ist generell kein schnellwirksames Mittel gegen Antisemitismus. Und da Antisemitismus ein komplexes gesellschaftliches Phänomen ist, gibt es viele verschiedene Wege, etwas dagegen zu bewirken. Die Arbeit zu Anne Frank kann Beiträge leisten: Die Jugendlichen müssen ja zunächst lernen, Antisemitismus zu erkennen und zu benennen, bevor sie sich dagegen wehren können. Sie müssen die »Codes« entschlüsseln können, die Anspielungen, die sich auf die Verfolgung von Jüdinnen und Juden durch die Nationalsozialisten beziehen. Daneben zielen antisemitische Haltungen und Handlungen darauf ab, Jüdinnen und Juden zu »anderen« zu machen. Auch in der Beschäftigung mit dem Holocaust werden Jüdinnen und Juden mitunter entmenschlicht und auf den Status als Opfer der Gewalt reduziert. Bei der Beschäftigung mit Anne Frank lernen die Jugendlichen ein jüdisches Mädchen aus Frankfurt kennen, das davon träumt, Schriftstellerin zu werden, das in seiner Schulzeit viele Freundinnen hatte und noch vieles mehr. Der biografische Ansatz irritiert möglicherweise bereits erlernte Annahmen.

Mit der neuen Direktorin des Anne Frank Zentrums sprach Christine Schmitt.

Justiz

Anklage wegen Hausverbots für Juden in Flensburg erhoben

Ein Ladeninhaber in Flensburg soll mit einem Aushang zum Hass gegen jüdische Menschen aufgestachelt haben. Ein Schild in seinem Schaufenster enthielt den Satz »Juden haben hier Hausverbot«

 12.11.2025

Interview

»Niemand hat Jason Stanley von der Bühne gejagt«

Benjamin Graumann, Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt, weist die Vorwürfe des amerikanischen Philosophen zurück und beschuldigt ihn, Unwahrheiten über den Abend in der Synagoge zu verbreiten

von Michael Thaidigsmann  12.11.2025

Hessen

Margot Friedländer erhält posthum die Wilhelm-Leuschner-Medaille

Die Zeitzeugin Margot Friedländer erhält posthum die höchste Auszeichnung des Landes Hessen. Sie war eine der wichtigsten Stimme in der deutschen Erinnerungskultur

 12.11.2025

Berlin

Touro University vergibt erstmals »Seid Menschen«-Stipendium

Die Touro University Berlin erinnert mit einem neu geschaffenen Stipendium an die Schoa-Überlebende Margot Friedländer

 12.11.2025

Jubiläum

»Eine Zierde der Stadt«: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in Berlin eröffnet

Es ist einer der wichtigsten Orte jüdischen Lebens in Deutschland: Vor 30 Jahren wurde das Centrum Judaicum in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße in Berlin eingeweiht. Am Dienstag würdigt dies ein Festakt

von Gregor Krumpholz, Nina Schmedding  11.11.2025

Vertrag

Jüdische Gemeinde Frankfurt erhält mehr Gelder

Die Zuwendungen durch die Mainmetropole sollen bis 2031 auf 8,2 Millionen Euro steigen

von Ralf Balke  11.11.2025

Berlin

Ein streitbarer Intellektueller

Der Erziehungswissenschaftler, Philosoph und Publizist Micha Brumlik ist im Alter von 78 Jahren gestorben. Ein persönlicher Nachruf

von Julius H. Schoeps  11.11.2025

Hannover

Ministerium erinnert an 1938 zerstörte Synagoge

Die 1938 zerstörte Neue Synagoge war einst mit 1.100 Plätzen das Zentrum des jüdischen Lebens in Hannover. Heute befindet sich an dem Ort das niedersächsische Wissenschaftsministerium, das nun mit Stelen an die Geschichte des Ortes erinnert

 10.11.2025

Chidon Hatanach

»Wie schreibt man noch mal ›Kikayon‹?«

Keren Lisowski hat die deutsche Runde des Bibelquiz gewonnen. Jetzt träumt sie vom Finale in Israel

von Mascha Malburg  10.11.2025