Porträt der Woche

Die Sprachdetektivin

»Es ist schön zu erleben, dass ich Menschen Tore zu einer reichen Welt öffne«: Efrat Gal-Ed (61) lebt in Düsseldorf und lehrt jiddische Literatur. Foto: gezett

Sprache spielt in meiner Familie eine sehr große Rolle. Juden sind, bedingt durch ihre Geschichte, oft vielsprachig. Die Eltern meines Vaters stammten aus Weißrussland. Sie flohen vor dem Ersten Weltkrieg in die Schweiz. So sprach mein Vater zu Hause Jiddisch, hörte bei seinen Eltern Russisch, sprach Schwyzerdütsch mit seinen Freunden und lernte in der Schule Hochdeutsch. Vor der Auswanderung der Familie nach Palästina 1924 bekam er Hebräischunterricht. Von einem drusischen Jungen, der in Palästina sein bester Freund wurde, lernte er palästinensisches Arabisch.

Auch meine Mutter wuchs in einem mehrsprachigen Umfeld auf. Sie ist das Kind kaukasischer Einwanderer, die das Judäo-Tatische sprachen. Daneben sprach sie Hebräisch und lernte bereits als Kind von den Neueinwanderern Jiddisch. Meine Muttersprache ist Hebräisch, ich hörte aber zu Hause auch viel Jiddisch. Ich bin aufgewachsen in Migdal am See Genezareth, dem biblischen Magdala.

afrika Als ich klein war, gingen meine Eltern für vier Jahre nach Ghana – mein Vater wurde als Wirtschaftsberater der dortigen Regierung nach Accra entsandt. Dort lernte ich Englisch. Und auf dem Gymnasium in Ramat Aviv hatte ich Französisch und Englisch als Hauptfremdsprachen und lernte Aramäisch.

Ich liebe Sprachen, Mehrsprachigkeit ist ein Selbstverständnis. Deutsch konnte ich gar nicht. Aber ich liebte deutsche Lyrik und deutsche Literatur, die ich in hebräischer Übersetzung las. Ich bewunderte zum Beispiel Rilke. Als ich 1975 an die Universität in Bonn kam, lehrte dort Beda Allemann, ein Rilke-Spezialist. Im zweiten Semester habe ich an seine Tür geklopft und darum gebeten, auch als Studienanfängerin an seinem Hauptseminar teilnehmen zu dürfen. Er stimmte zu, das war großartig.

Die ersten Jahre an der Universität waren ein Kampf um die deutsche Sprache. Nach der Sprachprüfung begann ich Germanistik, Komparatistik und Judaistik zu studieren. Dieses Studium war mein großer Traum. Aber recht bald musste ich zu meiner Verzweiflung feststellen, dass ich kaum etwas verstand. In einem Tutorium für Ausländer erklärte sich ein Germanistik-Doktorand bereit, mir zu helfen. Er war meine Rettung und lotste mich durch das Dickicht der akademischen deutschen Sprache.

Erschwerend kam hinzu, dass es damals kein brauchbares deutsch-hebräisches Wörterbuch gab. Ich musste zuerst ins Englische und danach aus dem Englischen ins Hebräische übersetzen. Dieses Ringen um die deutsche Sprache dauerte zwei Jahre. Doch dann begann es plötzlich zu fließen.

malerei Allerdings wollte ich zu dieser Zeit nicht mehr Literatur studieren, sondern malen. Ich studierte Malerei in der Klasse von Gotthard Graubner an der Kunstakademie in Düsseldorf. Nach meinem Abschluss und in den Anfängen als freischaffende Künstlerin konnte ich jedoch von der Malerei allein nicht leben und kehrte wieder zum Schreiben zurück. Da ich in Deutschland lebte, schrieb ich deutsch. Und so wurde ich statt einer hebräischen eine deutsche Autorin.

Anfangs verfasste ich Radiofeatures über jüdische Kultur, Literatur und Israel für die ARD-Rundfunkanstalten. Es gab damals noch lange Sendungen, und es machte Freude, komplexe Themen vielstimmig zu gestalten. Ich führte Interviews mit Philosophen, mit Schriftstellern, mit Politikern, zum Beispiel mit Jeschajahu Leibowitz, Jehuda Amichai und Schimon Peres. Bald übersetzte ich auch Lyrik aus dem Hebräischen und Jiddischen. Irgendwann hat sich die Landschaft beim Radio geändert, und ich begann, Bücher zu schreiben.

In meinem neuesten Buch Niemandssprache. Itzik Manger – ein europäischer Dichter verschränke ich zwei Geschichten: die Lebensgeschichte von Itzik Manger, einem der größten Dichter jiddischer Sprache, der am 30. Mai 1901 geboren wurde, und die jiddisch-säkulare Kulturgeschichte Osteuropas in der Zeit zwischen den Weltkriegen.

Das Besondere ist, dass diese Themen parallel vermittelt werden, zweistimmig auf derselben Seite – ähnlich der Buchgestaltung des Talmuds mit ihren zwei Textspalten. Ein wichtiges Element des Buches sind die Fotografien und Dokumente. Jedes Kapitel beginnt mit einem Bild und dessen minutiöser Beschreibung und dem, was ich über die Zeit und die Menschen darin lese. Aus ganz vielen Kleinigkeiten rekonstruiere ich eine Geschichte, die mir niemand erzählt hat und die nirgends geschrieben ist. Das ist auch Detektivarbeit.

dunkelgold Ich habe mehr als 8000 Schrift- und Bilddokumente gesammelt, gesichtet und ausgewertet. Ich entschied mich dazu, Lebens- und Kulturgeschichte zu trennen und zugleich parallel laufen zu lassen. Denn wie könnte man von einem Menschen erzählen, ohne über seinen Lebenskontext zu sprechen? In Mangers Fall habe ich der jiddischen Kulturgeschichte, die heute so gut wie unbekannt ist und nicht mehr existiert, besonders viel Raum gegeben. Es gibt unendliche Möglichkeiten, dieses Buch zu lesen. Man kann irgendwo ansetzen, aufhören und zwischen den Texten springen. Für den Leser entsteht dieses Buch im Lesen.

Mit dem Dichter Itzik Manger begann ich mich vor über zehn Jahren zu befassen, als ich Dunkelgold, die zweisprachige Anthologie seiner Gedichte, herausgab. Um das Nachwort zu schreiben, fuhr ich damals nach Jerusalem, wo ich in der Nationalbibliothek, in der Mangers Nachlass untergebracht ist, recherchierte. Ich entdeckte, dass es noch eine Fülle an bislang unbearbeitetem Material gab, und schlug dem Verlag vor, eine Biografie zu schreiben.

Nach längeren Forschungsaufenthalten in Jerusalem fuhr ich nach Czernowitz, Mangers Geburtsort, dann nach Warschau, schließlich nach New York, wo die Nachlässe seiner Freunde aufbewahrt sind. Ich kann nicht sagen, dass ich in Mangers Werk über beide Ohren verliebt wäre. Ich finde ihn teilweise bewundernswert, an manchen Stellen auch richtig schwach – so wie Künstler eben sind, nicht immer gleich gut. Aber den Fall finde ich spannend.

rebell Es ist die Geschichte eines Menschen, der aus den unteren Schichten kommt. Er bricht das Gymnasium nach nur einem Semester ab, ist sehr rebellisch. Seine Familie ist nicht orthodox, aber noch traditionell gebunden, wie häufig in dieser Zeit.

Bereits mit 17 Jahren beginnt er, Gedichte auf Jiddisch zu schreiben. Nach dem Ersten Weltkrieg lebt er in Rumänien, dort hält er jungen Arbeitern Vorträge über jiddische Literatur. 1928 kommt er nach Warschau, in der Zwischenkriegszeit das Zentrum jiddischer Kultur. Manger reist viel – in die baltischen Länder, nach Berlin, Paris. Er wird zu einem der populärsten jiddischen Dichter. Wenn man seinen Namen heute in Israel erwähnt, kennt ihn jeder.

An seiner Lebensgeschichte und an seinem Werk lässt sich die moderne jiddische Kultur veranschaulichen, die sich in dieser Zeit auf außergewöhnliche Weise entfaltet wie nie zuvor und nie mehr danach. Mangers Leben ist auch von dem tragischen Bruch, der Zäsur durch die Schoa gezeichnet. Mit seiner Lebensgeschichte wollte ich etwas von dieser zerstörten Welt, von der wir heute immer weniger wissen, zu uns hinüberretten, vergegenwärtigen.

tore Auch in meiner Arbeit an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf, wo ich vor allem moderne jiddische Literatur und Kultur unterrichte, versuche ich, meinen Studenten den Zugang zu dieser Welt zu vermitteln. Sie sind von zu Hause aus nicht jiddischsprachig und lernen, wie man moderne jiddische Poesie und Prosa analysiert und natürlich erst einmal überhaupt versteht. Ich zeige ihnen auch am Beispiel der jiddischen Presse der Zwischenkriegszeit, welchen Spaß es machen kann, alte Zeitungen zu lesen, in einen spannenden Kulturraum einzutauchen.

Es ist wunderschön, zu erleben, dass ich Menschen, die von dem ganzen Thema zuvor keine Ahnung hatten, die Tore zu einer reichen Welt öffnen darf.

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