Porträt der Woche

Die Rezepte der Vorfahren

»Ich sah und sehe mich auch als Vermittlerin zwischen verschiedenen Kultur- und Religionskreisen«: Esther Belgorodski (25) aus Hannover Foto: Heiner Schlote

Porträt der Woche

Die Rezepte der Vorfahren

Esther Belgorodski ist ein Familienmensch, kocht gern und möchte etwas bewegen

von Christine Schmitt  05.03.2025 17:14 Uhr

Nach meinem Studium und vor meinem beruflichen Start hatte ich Zeit und Muße, unser »Familien-Kochbuch« zu erkunden. Dieses Buch ist kein gekauftes, es ist eine Zeitreise in unsere Familiengeschichte. Meine Vorfahren schrieben dort ihre alltäglichen oder Feiertags-Rezepte nieder. Sie ahnten damals gewiss nicht, wie wertvoll dieses Kochbuch einmal für uns sein würde. Meine Familie stammt aus der Ukraine, etliche Angehörige sind im Holocaust ermordet worden. Der Vater meiner Mutter hat überlebt. Heute wohnen meine Großeltern ein paar Straßen entfernt, glücklicherweise, denn sie stehen mir sehr nah. Bevor ich meine neue Stelle angetreten habe, bin ich fast jeden Morgen zu ihnen hinübergegangen, um mit ihnen zu frühstücken. Das mag ich sehr und vermisse dieses Ritual jetzt im Arbeitsalltag.

Meine Eltern gaben mir den Vornamen Esther. In ihm sehe ich so viel Verantwortung. Das ist der Name der Oma meiner Mutter. Es war ihr wichtig, ihn weiterzugeben. Und zwar in einem neuen Land, in das sie und mein Vater immigrierten. Auch meine Eltern und meine ältere Schwester sind mir sehr nah. Deshalb bin ich nach meinem Studium von Bremen wieder nach Hannover zurückgezogen.
Als ich meinen Bachelor im Studiengang »Integrierte Europastudien« in der Tasche hatte, stand ich vor einer neuen Herausforderung. Mit diesem Studienfach einen Job finden? Gar nicht so einfach. Es dauerte ein bisschen, bis ich meinen ersten Arbeitsvertrag unterschreiben konnte. Nun bin ich glücklich, seit Februar bei der Villa Seligmann mein Know-how einbringen zu können.

Ich bin an diesem Begegnungs- und jüdischen Kulturort zufrieden und freue mich darauf, viel dazuzulernen und viel zu geben. Ausgerechnet in dem Viertel, in dem sich ein großer Teil meines Lebens abgespielt hat, werde ich nun arbeiten. Hier bin ich zur Schule gegangen, in der Nähe steht die Synagoge und befindet sich das Jugendzentrum, in dem ich Chanicha und später Madricha war. Nach meiner Jugend folgte mein Studium, für das ich nach Bremen zog.

Bevor Putin die Ukraine überfiel, war das Wort »Krieg« nicht Teil meines Lebens.

In der Hansestadt gab es vor vier, fünf Jahren kaum Angebote für jüdische Studierende. Das sollte sich ändern. Ich engagierte mich intensiv und wurde zur Präsidentin des Verbands Jüdischer Studierender Nord e. V. gewählt. Wir organisierten Stammtische, die erste und bis jetzt einzige jüdische Campuswoche, Lesungen mit jüdischen Autoren, Infostände über unsere Arbeit und einen internationalen Schabbaton. Dieser war so gefragt, dass wir die Anmeldeliste nach kürzester Zeit schließen mussten.

Dazu kamen die Gespräche mit der Bremer Bürgerschaft. Es gefiel mir, für das Miteinander zu sorgen. Es konnte gar nicht genug Gelegenheiten geben, unsere Stimme in größere Kontexte einzubringen.

Als Kind stand ich als Mitglied des XS-Opernclubs auf der Bühne. Ich fühlte mich sehr wohl im Scheinwerferlicht – das war auch für mein Engagement als Präsidentin entscheidend. In diesem Amt durfte ich mit Politikern, Medienvertretern und Aktivisten auf Podien Rede und Antwort stehen.

Ausgerechnet das Taharahaus auf dem jüdischen Friedhof wurde der Ort, an dem wir Spenden entgegennahmen

Vor drei Jahren kam der 24. Februar. In der Nacht, als Putin die Ukraine überfiel, erhielt ich um vier Uhr früh eine Nachricht von einem ukrainischen Freund: »Es ist Krieg, wir werden angegriffen.« Das Wort »Krieg« war bis dahin nicht Teil meines Lebens. Nun also Krieg in dem Land, in dem so viele Menschen leben, die mir wichtig sind. Ich fuhr zu meinem Freund, gemeinsam saßen wir 16 Stunden vor dem Bildschirm, um alle Nachrichten mitzubekommen. Wir wussten, wir vom Verband müssen etwas machen, und starteten eine Hilfsaktion. Ausgerechnet das Taharahaus auf dem jüdischen Friedhof wurde der Ort, an dem wir Spenden entgegennahmen. Auf die Schnelle konnten wir keinen anderen Ort finden.

Es wurden intensive Tage und Nächte, an denen wir unentwegt gesammelt, sortiert und Sachen verpackt haben. In dieser Zeit gab es für mich kein anderes Leben. Den Lkw, den wir beladen konnten, polsterten wir noch mit zehn Matratzen aus. Mit den gespendeten Medikamenten hätte man wahrscheinlich eine kleine Krankenhausstation aufmachen können. Zu guter Letzt sprühten wir rote Herzen auf die Kartons.

Zu guter Letzt sprühten wir rote Herzen auf die Kartons

Doch es kam der Moment, in dem ich spürte, dass es so nicht weitergehen konnte, dass ich etwas ändern sollte: Ich musste die Reißleine ziehen und meine Präsidentschaft beim Verband Jüdischer Studierender Nord niederlegen. Der Moment war gekommen, neue Prioritäten zu setzen und meine Bachelorarbeit fertig zu schreiben. Das, was in den vergangenen zwei Jahren den Großteil meines Lebens ausgemacht hatte, musste ich aufgeben. Ich spürte zwar eine große Leere, aber so hatte ich Muße und Zeit, mich in meine Abschlussarbeit zu vertiefen.

Während dieser Phase wurde das Wort »Krieg« für mich immer präsenter. Seit dem 7. Oktober 2023 hat sich mein Leben ungewollt und ungefragt um 180 Grad gedreht. Alle Lebensbereiche sind von den vorherrschenden und weltweiten Konsequenzen betroffen. Als manche Geiseln jüngst freigelassen wurden, habe ich wieder voller Spannung vor dem Bildschirm gesessen, geweint und alles verfolgt.

Ich bin in Deutschland geboren, bin hier aufgewachsen und kenne kein anderes Land so gut wie Deutschland. Meine Eltern kamen 1990 als sogenannte Kontingentflüchtlinge aus der Ukraine nach Deutschland. Erst waren sie in Groß Düben bei Görlitz untergekommen. Mein Onkel, meine Großmutter, mein Großvater, meine Eltern und auch meine Schwester teilten sich dort ein Zimmer.

Ich brauche momentan meine jüdische Community sehr

Nach einem weiteren Zwischenstopp in Lauenau zogen sie endlich nach Hannover. Meine Mutter und mein Vater hatten in der Ukraine studiert und wollten ihre Studien eigentlich auch in Hannover fortsetzen, doch das Berufsleben holte sie schnell ein. Für beide stand fest, dass meine Schwester und ich bestmöglich gefördert werden sollten. Deshalb erhielten wir nach der Schule weiteren Unterricht, unabhängig von unseren Leistungen.

Ich brauche momentan meine jüdische Community sehr. Dort verstehen mich die Menschen, sie weinen am Schabbat mit mir, wir nehmen einander in den Arm, schweigen uns voller Emotionen an. Ferner bin ich dort sicher, hinter den schusssicheren Fenstern, mit Security und dem Polizeiwagen vor der Tür.

Mein Großvater mahnt mich immer, vorsichtig zu sein. Denn ich trage einen Davidstern und bin es gewohnt, ein freies Leben zu führen. Ich weiß, dass mir niemand meine Sicherheit garantieren kann. Aber ich will mich nicht verstecken und mich mit der Realität abfinden, die der meines Großvaters ähnelt, damals in der Sowjetunion. Ich möchte nicht daran denken, doch seine Bedenken sind auch im Heute, in meiner Realität berechtigt.

Bei der liberalen Gemeinde meiner Heimatstadt fühle ich mich seit meiner Rückkehr nach Hannover sehr wohl. Von den 60 Leuten, die den Gottesdienst besuchen, ist die Hälfte unter 35 Jahre alt. Die Leute kommen bewusst an einem Freitagabend in die Gemeinde und erfreuen sich ihrer jüdischen Kultur – eine solche Frische habe ich mir immer gewünscht.

Ich sah und sehe mich auch als Vermittlerin zwischen verschiedenen Kultur- und Religionskreisen. Noch als Jugendliche nahm ich an zwei Austauschprogrammen teil. Zuerst lebte ich bei einer türkischen Familie in Istanbul. Und dann reiste ich zum ersten Mal nach Israel. Es war im Rahmen der Städtepartnerschaft der Regionen Hannover und Galiläa. Ich kam dort zuerst bei einer äthiopischen und dann bei einer mizrachischen Familie unter. Diese Reisen eröffneten mir neue, tiefgreifende Perspektiven und prägten meinen Blick auf die Welt.

Meine Familie feiert gern. Mir fiel schon als Mädchen auf, dass mir das Tanzen und Singen Spaß bringt. So kam ich in den XS-Club am Opernhaus. Seit vergangenen Sommer bin ich auch Mitglied im Beraterkreis des Antisemitismusbeauftragten in Niedersachsen. Gesellschaft und Kultur liegen mir sehr am Herzen. Mit einem Stift und Notizblock ausgestattet, versuche ich, so viel Wissen wie möglich zusammenzutragen und genug Zeit für meine eigenen Fragen einzuplanen.

Wenn ich die Zeit fürs Kochen und Backen habe, dann mache ich es gern und freue mich, dass es am Ende meine Liebsten zusammenbringt. Oft wähle ich ein Rezept aus »unserem« Kochbuch, und später sitzen wir alle an einem Tisch und genießen das Ergebnis.

Aufgezeichnet von Christine Schmitt

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